Hier verspachelt, dort Risse und Fugen sichtbar gelassen: Johannes Porsch schuf ein analytisches Display für "Destination Wien": Die Künstlerpositionen wurden - fifty-fifty -aus einem Open Call ausgewählt oder von den Kuratoren geladen.


Foto: Stephan Wyckoff / Kunsthalle Wien

Wien - Scharfe, gerade Kanten, rechte Winkel - so etwas wird man in Wiener Altbauten nicht finden. Ob diese unklaren Linien, die aufgeweichten, unpräzisen Raumecken wohl eine gute Metapher dafür wären, wie Wien funktioniert, fragte ein Freund den Künstler Misha Stroj, der diesem schönen Gedanken die Plastik Wiener Kante (2000) gewidmet hat.

Es bleibt bei einer These. Denn wie die Stadt wirklich tickt, insbesondere ihre Kunstszene, das wüssten selbst jene gerne, die Teil des oft selbstreferenziellen Betriebs sind. Und so kann man die Ausstellung Destination Wien 2015 - eine Variation auf das Kunsthallenformat lebt und arbeitet in Wien - als Annäherung verstehen. Oder besser: als Annäherung und Verweigerung zugleich. Denn die eine Szene gibt es nicht, erkannte man sehr richtig, verpasste dem Wiener Wappen-Adler am Plakat daher fünf Köpfe und erweiterte das Einzugsgebiet über einen Open Call. "Extremer Weitwinkel" nennt man diese Strategie auch, die der "sehr geölten Wiener Mechanik" (Anne Faucheret) zuwiderläuft; eine hierarchische, reibungslose Route, die auf asphaltierten Wegen über die Akademien und Offspaces in die kommerziellen Galerien führt. Eine Guerilla-Plakataktion kritisierte vorab die Quote: "28 Frauen, 54 Männer." Kunsthallen-Chef Nicolaus Schafhausen parierte: "Es gibt nicht nur zwei Geschlechter."

Der Wiener Minimalkompromiss

Entzogen hat man sich in gewisser Weise dem erobernden, neokolonialen Blick, einer Art von heroischer Kuratorenschaft, multiplizierte daher die Perspektiven: Ganze sieben Spezialisten wirkten, sichteten und wählten aus mehr als 1400 Einreichungen die eine Hälfte von etwa 80 teilnehmenden Künstlern und Künstlerinnen aus. Die anderen Namen stiftete die Kuratorenrunde in einen gut gefüllten Topf mit Namen "Recherche". Geeinigt hat man sich trotzdem über jede Position in der Schau; womöglich sogar mit der Strategie des Wiener Minimalkompromisses, den Nichtzugereiste mit "nur kane Wöön schlagen, mir wean sich scho einigen" erklären würden. Die Gruppe G.R.A.M. bezog sich damit allerdings auf die jüngsten Verhandlungsergebnisse mit dem Iran im Atomkonflikt; das Gruppenbildszenario der Regierungsvertreter in der Hofburg, das weder Zufrieden- noch Entschlossenheit zum Ausdruck bringt, würdigte das Kollektiv mit einem Re-Enactment. Wienerisch war allenfalls der Ort der diplomatischen Mission.

So multilateral leger handhabte man das auch bei Destination Wien 2015. Warum soll für den Wien-Bezug nicht eine Galerievertretung in der Hauptstadt oder eine wenige Wochen dauernde "Residency", also ein Stipendiatsaufenthalt, genügen? Fragt man die Kurzeitwiener über die Eigenarten des lokalen Marktes, rangieren die Antworten zwischen "anders" und "Keine Ahnung."

Irgendwie haftet dem Format etwas Anarchisch-Sympathisches an, weil: Wer möchte in Zeiten, in denen nationales Kunstschaffen zugunsten des globalen mehr und mehr negiert wird, mit dem Wien-Etikett winken? Vielleicht ist Destination Wien 2015 also reine Provokation? Einigen wir uns auf: ein Angebot. Momentaufnahme eines Catwalks. Und trotz der angekündigten und auch eingelösten Breite wirkt das Ganze stimmig, anregend und erstaunlich aufgeräumt. Zugegeben: Beliebig wird das polyfone Statement durch die Vereinnahmung von "fast 60 weiteren Spielorten" - Galerien und Offspaces, die ihr eigenes Wien-Ding betreiben.

Zur optischen Beruhigung beigetragen haben gekonnte Displays: Am Karlsplatz, wo am Freitag das performative und diskursive Programm startet, hat Ovidiu Anton für sein Modulsystem auf obsoletes Baumaterial früherer Schauen zurückgegriffen. Im Museumsquartier zitieren sowohl Eric Kläring als auch Johannes Porsch den Charme des Improvisierten und Unfertigen; Porsch dabei immer auch die Modi der Repräsentation durchkreuzend.

Die Repräsentation als Thema lässt sich hier in vielerlei Spielarten finden (freilich darf man nicht vergessen, dass auch die Betrachterauswahl subjektiven Interessen folgt): Fotos als wichtigstem Mittel historischer Repräsentation entziehen etwa Ana Hoffner und Johann Schoiswohl die Macht: Sie bietet dafür die vermeintliche Authentizität von Augenzeuginnen an, er zeigt die Stellen in privaten Fotoalben, wo Aufnahmen herausgerissen wurden. Erhabenheit bildlicher Repräsentation durchkreuzt Julian Charrière, dessen Schweizer Berge nur mit Mehl bestäubte Erdhaufen sind.

Zur Auratisierung der Künstlerfigur braucht es kein Hirn, haut Stroj in die nächste Kerbe. Auch Sofia Goscinski beklagt in yogischer Gelenkigkeit die Kopflosigkeit: "No illusions without head." (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 17.4.2015)