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Die Frage nach der moralischen Schuld lässt sich immer nur im Einzelfall beantworten, niemals pauschal. Kriterium dafür ist, ob eine Person im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Richtige tut oder nicht.

Foto: AP/Christof Stache

Ich möchte ein schönes Porträt über die feministische Theologin Amina Wadud empfehlen, die muslimische Frauen auffordert, der patriarchalen Interpretation des Islam deutlicher zu widersprechen. "We let patriarchy to take over", kritisiert sie, das heißt, sie richtet sich mit ihrem Appell nicht an "die anderen" (die Männer, das Patriarchat, die Typen vom Islamischen Staat), sondern an "uns", in diesem Fall die muslimischen Frauen, und fordert sie auf, Verantwortung für die Art und Weise zu übernehmen, wie sich der Islam derzeit entwickelt.

Victim Blaming

Ich blogge auch deshalb darüber, weil mich einige Reaktionen auf meinen Blogpost zum Thema "Rape Culture" doch verwundert haben. Dort schrieb ich unter Bezug auf die Arbeiten von Mithu M. Sanyal, Frauen seien "mit der Art und Weise, wie sie Geschlecht 'performen', auch selbst aktive Mitwirkende an dem, was heute unter dem Oberbegriff 'Rape Culture', also Vergewaltigungskultur zusammengefasst wird". Das wurde kritisiert mit dem Argument, damit würde ich Vergewaltigungsopfern eine Mitschuld zuweisen, also letztlich "Victim Blaming" betreiben.

Es ist meines Erachtens ein echtes Problem bei vielen deutschsprachigen politischen Debatten, dass alles quasi innerhalb von Nanosekunden auf die Schuldfrage zugespitzt wird. Über Politik, so scheint es mir manchmal, können wir gar nicht anders als moralisch sprechen, also immer vor dem Hintergrund der Frage, wo Gut und Böse jeweils liegen und wer in den Himmel kommt und wer in die Hölle.

Es geht um Verantwortung

Es geht aber bei politischen Debatten nicht um moralische Schuld, sondern um Verantwortung. Gerade in Deutschland sollten wir angesichts der Notwendigkeit, den Nationalsozialismus aufzuarbeiten, eigentlich inzwischen gelernt haben, zwischen beidem einen Unterschied zu machen. Nicht persönlich an etwas "schuld" zu sein enthebt niemanden der Verantwortung.

Selbstverständlich ist keine Frau, die vergewaltigt wird, in irgendeiner Weise selbst daran "schuld". Schuld ist immer zu 100 Prozent der Täter. Das festzustellen bedeutet aber nicht, dass Frauen in Bezug auf Vergewaltigungskultur generell keine Verantwortung tragen würden, dass es also für sie unmöglich wäre, diesbezüglich eine aktive Rolle einzunehmen. Und immer, wenn es jemandem möglich ist, aktiv etwas zu tun, lässt sich auch sinnvollerweise darüber diskutieren, ob das, was jemand tut, richtig oder falsch, sinnvoll oder sinnlos ist.

Stabilisierung von Vergewaltigungskultur

Frauen, die ihren Töchtern beibringen, sie müssten erst einmal Nein sagen, um sich bei Männern interessanter zu machen; Frauen, die sich sexualisiert aufbrezeln, nicht weil es ihnen so gefällt, sondern weil sie meinen, sie müssten das tun, um anerkannt zu sein; Frauen, die schweigend zuschauen, wie andere Frauen von Männern belästigt werden; Frauen, die als Mitarbeiterinnen von Werbeagenturen Kampagnen mit objektivisierten Frauenkörpern mittragen und so weiter und so weiter – sie alle tragen aktiv zur Stabilisierung von Vergewaltigungskultur bei. Die Beispiele ließen sich natürlich vervielfachen.

Aber auch das festzustellen bedeutet nicht, dass alle Frauen, die sich so verhalten, auch in einem moralischen Sinne schuldig sind. Möglicherweise haben sie ja gute Gründe, die ihr Verhalten rechtfertigen. Oder sie befinden sich in einer Situation, in der sie keine anderen Möglichkeiten haben. Oder sie haben noch nie über das Thema nachgedacht. Es gibt hundert Gründe, die ihr Verhalten erklären, viele davon sind struktureller Natur und damit in der Logik individueller Schuld nicht hinreichend zu erfassen.

Moralische Schuld kann nicht pauschaliert werden

Die Frage nach der moralischen Schuld lässt sich sowieso immer nur im Einzelfall beantworten, niemals pauschal. Kriterium dafür ist, ob eine Person im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Richtige tut oder nicht. Normalerweise können das Außenstehende gar nicht beurteilen.

Auch wenn wir uns also zurückhalten müssen, eine andere Person im Einzelfall als moralisch schuldig zu verurteilen, weil wir die jeweiligen Umstände höchstwahrscheinlich nicht vollständig erfassen, so können wir uns durchaus mit solchen ethischen Fragen auf einer politischen Ebene auseinandersetzen. Dabei geht es aber eben nicht um Moral und Schuld, sondern um Verantwortlichkeit. Nicht nur die "Täter" und "Mächtigen" sind für ihr Handeln verantwortlich, nicht nur sie haben Handlungsspielräume – zum Glück, denn es ist keine aussichtsreiche politische Strategie, bloß Forderungen an "die da oben" zu stellen. "Die da oben" werden unseren Forderungen nicht nachkommen. Der politische Wandel geht, wenn überhaupt, von uns selbst aus. Die interessante Frage ist deshalb: Was wollen, können, sollen wir tun? Und nicht: Was sollen wir von "denen da" fordern?

Kein Recht zu gehorchen

"Niemand hat das Recht zu gehorchen", sagte Hannah Arendt. Ihre Kritik an den "Judenräten", die als jüdische Autoritäten die Nazis bei der Organisation des Lebens in den Ghettos unterstützten (mit besten Absichten), hat ihr von jüdischer Seite ebenfalls den Vorwurf des "Victim Blaming" eingebracht. Der Hinweis darauf, dass es kein Recht zu gehorchen gibt, dass es also nicht erlaubt ist, den eigenen Konformismus damit zu rechtfertigen, dass irgendwelche Autoritäten das verlangt oder so vorgeschrieben haben, ist aber gerade auch für den Feminismus wichtig. Denn viele Frauen nutzen ihre Handlungsmöglichkeiten aufgrund von zu viel "Gehorsam" nicht aus, sie scheuen Konflikte, legen Wert auf männliche Anerkennung, fokussieren sich ausschließlich auf ihr Privatleben und so weiter. Das lässt sich auf einer generellen Ebene durchaus als Problem feststellen, auch wenn es auf einer moralischen Ebene nicht möglich ist, in einem konkreten Fall von außen zu entscheiden, welche Handlungsmöglichkeiten eine konkrete Frau nun tatsächlich hat oder nicht.

Wann ist Feminismus wirkungsvoll?

Feminismus ist jedenfalls umso wirkungsvoller und interessanter, je mehr wir uns nicht in einer Politik der Forderungen verlaufen, sondern uns selbst und andere Frauen dazu anregen, etwas Sinnvolles zu tun. Wenn wir Praktiken erfinden, die uns (und vielleicht auch anderen) dabei helfen, angesichts der Verhältnisse verantwortlich zu handeln und uns für das einsetzen, was wir für richtig halten. Zum Beispiel indem wir uns darüber austauschen, welches Handeln Erfolg hat und was nicht und so weiter. Indem wir also gerade nicht moralische Anforderungen an uns selbst oder gar an andere Frauen stellen, sondern durch eine realistische Betrachtungsweise die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jede im Rahmen ihrer Möglichkeiten tut, was sie kann. Dafür ist es ja gerade nötig, dass wir ernst nehmen, was Frauen daran hindert. Und es ist unabdingbar, nicht ständig in jedem Vorschlag zum politischen Handeln gleich einen moralischen Druck zu sehen, was natürlich nur zu reflexhafter Ablehnung führt (in der Regel eine Begleiterscheinung von schlechtem Gewissen). Es geht im Feminismus darum, Wege zu finden, wie wir die Möglichkeiten und Handlungsoptionen von Frauen erweitern können. Moral hilft uns dabei nicht, aber Realismus.

Das ist kein Aufruf zu Aktionismus

Denn niemand hat überhaupt keine Handlungsmöglichkeiten. Und genau das ist der Hebel für politische Transformationen. Veränderung hin zu einer freiheitlicheren Welt ist nur möglich, wenn die betroffenen Akteur_innen selbst etwas bewegen; Veränderung wird nie "von oben" ausgehen.

Das ist im Übrigen kein Aufruf zu Aktionismus. Wir wissen ja längst, dass zu viel Aktivismus oft genauso schädlich für eine positive Transformation ist wie zu wenig. "Nicht handeln", wie Simone Weil es nannte, ist oft besser, als falsch zu handeln, und falsches Handeln aus guten und ehrenwerten Motiven kann ebenso viel Schaden anrichten wie unterlassenes Handeln.

Aber dass Menschen, die Opfer von ungerechten Verhältnissen sind, keine Schuld an ihrer Lage haben, bedeutet nicht, dass sie innerhalb dieser Verhältnisse keine politische Verantwortung trügen und keinerlei Handlungsoptionen hätten. Dass sie sich realistisch und ohne moralischen Impetus untereinander über diese Optionen und die eigenen Verantwortlichkeiten austauschen und sich über ihre Möglichkeiten klar werden, ist aus meiner Sicht der entscheidende Hebel für feministisches (und vermutlich auch anderes) Engagement. (Antje Schrupp, dieStandard.at, 24.4.2015)