"Wer aber sind sie wirklich?": Jugendliche schreiben bei einem Berufsschulworkshop in Wien ihre Geschichte.

Foto: blinklicht media / Marco Büchl

Der große amerikanische Radiomoderator und Schriftsteller Studs Terkel veröffentlichte 1974 sein Buch Working, das im Untertitel People Talk About What They Do All Day and How They Feel About What They Do hieß. Also ungefähr: Was Krethi und Plethi in Amerika den ganzen Tag so treiben und was sie sich dabei denken. Geschichte war für Terkel nicht (nur) das Sammeln von Kriegsdaten und Opferzahlen oder, über Friedensverträge und Landnahmen nachzudenken. Geschichte war für ihn das Erzählen von Geschichten normaler amerikanischer Bürger.

Seit 2005 erscheint in der Österreich-Ausgabe der deutschen Wochenzeitung Die Zeit eine Kolumne, die sich "Drinnen/Draußen" nennt. Der Journalist Ernst Schmiederer lässt darin sowohl Österreicher zu Wort kommen, die im Ausland leben, als auch Ausländer, die zu uns gekommen sind. Bevor er mit diesen Berichten begann, war Schmiederer Amerika-Korrespondent für das Magazin Profil mit Sitz in New York und lebte in einem Loft in TriBeCa.

Noch heute schwärmt er von seinem Vermieter Bernie Aronson. "Renoviert hat uns die Wohnung Emil, ein Österreicher, der kaum noch Deutsch sprach." Emils Erzählungen erscheinen ihm heute wie Vorläufer seiner Berichte aus der Fremde.

In Amerika lebte Schmiederer in einem Milieu, das so vollkommen und selbstverständlich interkulturell geprägt war, dass es niemandem mehr auffiel. Aufgewachsen aber ist er in tiefster österreichischer Provinz, in Hallein. Dass er dort selbst einen Migrationshintergrund hatte, wurde ihm erst bewusst, als Jahrzehnte später bei einer Buchpräsentation seine Mutter anwesend war. Eine ins Salzburgerische zugewanderte Deutsche, die ihr Deutschtum auch in der Sprache nie ablegte, sondern es im Gegenteil forsch zelebrierte.

Du Gutmensch, du Nazi

Seither begleitet ihn nicht nur als Journalisten die stets hatscherte österreichische Debatte über Einwanderung und Integration, die sich im Spannungsfeld der Stereotype "Du Gutmensch! – Du Nazi!" recht hilflos um die Tatsache herumdrückt, dass wir längst und notwendigerweise zum Einwanderungsland geworden sind.

Wer in dieser Debatte die kümmerlichste Rolle spielt, ist für Schmiederer auch klar: "Die Chefs haben keine Ahnung mehr vom Leben in diesem Land", sagt er. Mit "Chefs" meint er die Großkopferten in Politik, Wirtschaft, Kultur, die sich zwar den A-List-Ausländer für die Dachausbauten im 1. Bezirk wünschen, alle anderen aber eher nicht.

Diese Ahnungslosigkeit kommt Schmiederers Meinung nach auch daher, dass den Leuten niemand mehr zuhört. Zum Beispiel unserer Jugend, über die der gute alte Waluliso noch sang, sie "ist und bleibt immer unsere Zukunft", für deren gegenwärtige Lebensumstände sich aber kaum jemand interessiert. Nur wenn ein paar von ihnen nach Syrien in den Jihad gehen oder komasaufend beim Maibaumumschneiden von der Bierbank fallen, machen sich wieder alle Sorgen.

"Wer aber sind sie wirklich?", fragt Schmiederer in seinem Buch We Are From Austria – Berichte aus dem neuen OE. "Sie sind heute 15 Jahre alt oder 22. Sie haben einen großen Teil in Klassenzimmern verbracht, die seit einem Vierteljahrhundert nicht ausgemalt wurden; manche finden eine Lehrstelle, manche sind arbeitslos, andere sitzen noch ein paar Jahre länger in armseligen Klassenräumen; sie haben kaum Vertrauen in die Politik, sie wollen mit der Kirche nichts zu tun haben oder suchen im Koran Halt. Jedenfalls spielen sie dauernd mit ihrem Smartphone."

2011 hat Schmiederer 5000 Schulhefte mit dem Titel "Berichte aus dem neuen OE" bedruckt und begonnen, ihre Geschichten zu sammeln. Sigrid Pohl, Zeichenlehrerin und Mitarbeiterin seines Blinklicht Media Lab, schrieb ihm ein medienpädagogisches Konzept dafür, ein kleines Team sammelt, transkribiert, dokumentiert und archiviert mit ihm gemeinsam die Berichte.

Am Anfang war die Skepsis groß: "Da wird dir keiner was reinschreiben!" Die Arbeiterkammer Oberösterreich aber biss an, in den Produktionsschulen des Landes wurden die ersten Hefte verteilt, 140 kamen zurück, und Schmiederer machte daraus oben erwähntes Buch. Die Bandbreite des Erzählten ist enorm. Der langweilige Alltag steht hier neben Biografien, die erschüttern.

So schrieb etwa ein gewisser Stefan: "Geschah es, dass ich mich mit vier Jahren mit heißem Kaffee verbrühte, das erste Mal halb tot im Krankenhaus. Mit fünf inhalierte ich eine Wespe, bewusstlos kam ich ins Krankenhaus … In der Hauptschule brach ich mir beim Schikurs die Hand … Als ich meine zweite Klasse Konditor machte, bekam mein Vater einen Herzinfarkt … Meine Mutter ist übergewichtig, hat Thrombosen und wird vom AMS beschäftigt. In der dritten Klasse hatte meine Schwester Claudia einen Unfall, Schädelbasisbruch, ein Pflegefall. Ich bin wütend. Schreiben fand ich entlastend."

Die hier schreiben, heißen mit Nachnamen Floric, Gharenhgheieh, Ulrich oder Singh.

Den "Chefs" sei also verraten, dass die Gegenwart unserer Jugendlichen in Wirklichkeit längst so aussieht, wie der 19-jährige Philipp sie beschreibt: "Meine Mutter stammt aus Japan und wurde in der Stadt Fujieda geboren, mein Vater wurde hier in Österreich geboren, sein Großvater war im Zweiten Weltkrieg in seinem Geburtsland Belgien in Gefangenschaft geraten und nach Braunau verfrachtet worden. Mein Nachname hat also belgische und nicht japanische Wurzeln. In meiner Kindheit wohnten wir in Uttendorf."

Der deutsche Autor Mark Terkessidis schrieb in seinem Buch Interkultur: "Es ist egal, woher die Menschen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Polis aufhalten, kommen und wie lange sie sich dort aufhalten. Wenn erst einmal die Zukunft im Vordergrund steht, dann kommt es nur darauf an, dass sie jetzt, in diesem Moment anwesend sind und zur gemeinsamen Zukunft beitragen."

Das tun auf ihre Weise und nach ihren Möglichkeiten alle Jugendlichen, deren Geschichten Schmiederer nun in der Sammelbox Wir in Wien. Das Sixpack mit 1300 Berichten vereint. Idealerweise sollen die Bücher nun auch dorthin zurück, wo sie geschrieben wurden: zu den Autorinnen und Autoren in die Schulen.

Eine Palette mit 100 Sixpacks deckt ein bis drei Schulen ab und kostet weniger als der Quadratmeter Eigentum im ersten Bezirk. Sponsoren, Unternehmen, Institutionen, aber auch Privatpersonen sind herzlich eingeladen, die großartigen Berichte aus dem neuen OE ins alte Österreich hinauszutragen. (Manfred Rebhandl, Album, DER STANDARD, 2./3.5.2015)