Die Howrah-Brücke verbindet die beiden indischen Städte Kolkata und Howrah.

Foto: Gilbert Kolonko

In der 14-Millionen-Metropole Kolkata schiebt sich in der Nähe eines Krankenhauses eine Blechlawine hupend Meter für Meter voran. Selbst in diesem verkehrsberuhigten Bereich wurde ein Lärmpegel von bis zu 109 Dezibel gemessen. Das reicht an die Lautstärke eines Presslufthammers heran. Im Rest der Stadt dröhnt es ähnlich, auch auf der Howrah-Brücke, über die sich täglich 80.000 Fahrzeuge und 120.000 Fußgänger drängeln.

Bestand der Lärm früher aus einem Gemisch aus lauten Stimmen, Fahrradklingeln und nur ein paar Hupen, so hat er sich mit dem Wirtschaftswachstum zu einem schrillen Krankmacher entwickelt. Im südindischen Chennai verlieren drei von vier Verkehrspolizisten nach vierjähriger Dienstzeit ihr Gehör. In Neu-Delhi kommen jeden Tag 1100 neue Fahrzeuge zum Verkehrschaos hinzu.

Während die indische Mittelklasse sich mit Lärmfenstern schützt, ist die Hälfte der Bevölkerung Kolkatas dem Lärmterror den ganzen Tag ausgeliefert, da sie sich nicht einmal eine Mietwohnung in einem der verfallenen Häuser der Stadt leisten können. Wer frühmorgens Kolkata durchstreift, sieht, wo ein Teil dieser Menschen lebt. Bei Tagesanbruch verwandeln sich die Notschlafplätze in Verkaufsstände und Teebuden. Von denen, die dort wohnen und arbeiten, kann sich kaum jemand den Besuch bei einem Ohrenarzt leisten. Doch 14 Prozent der Bewohner Kolkatas haben schwere Gehörschäden.

Robuste Hupen für Indien

Schon ein durchschnittlicher Lärmpegel von 85 Dezibel - etwa vergleichbar mit Musik in einer Diskothek - kann auf Dauer zu Taubheit führen. Dieser Lärmpegel ist in Indien jedoch Alltag. So bauen Audi und Volkswagen aus Sicherheitsgründen extra robuste und laute Hupen für den indischen Markt. Wer es noch lauter will, kann im Internet Hupen bis zu 148 Dezibel erwerben, was weit über die ertragbare Schmerzgrenze des Menschen hinausgeht.

In Delhi musste wegen der Vielzahl an Hörgeschädigten sogar ein Projekt mit Elektrotaxis aufgegeben werden. Die waren so leise, dass andauernd Fußgänger bei dem Überqueren der Straße von ihnen erfasst wurden. Die offizielle Begründung war eine andere: fehlende Nummernschilder.

Der Lärmterror hat auch schon die Berggegenden erreicht. In Darjeeling, der "Perle des Himalayas", dominieren am Busbahnhof Lärm und Gestank. Sogar in einer Fußgängerzone von Darjeeling schrillen und dröhnen die Hupen, da sich die Motorradfahrer, die ihre Gefährte hier für 100 Meter schieben müssen, hupend durch die Menge drängeln.

Auch in den steilen Straßen hupen sich entgegenkommende Lenker an, scheinbar in der Hoffnung, dass die in der Kolonialzeit angelegten Straßen breiter werden. Doch die Infrastruktur in Indien ist mit dem Wirtschaftsboom und seinen technischen Errungenschaften schon jetzt überfordert, und das, obwohl es gerade einmal 58 Fahrzeuge auf 1000 Einwohner in Indien gibt. In Deutschland sind es 600, in Österreich immerhin rund 550 Pkw pro 1000 Einwohner.

Überforderte Infrastruktur

Indien hungert nach Wohlstand und damit verbunden nach steigenden Wirtschaftszahlen. Auf Dauer gehört dazu eine moderne Infrastruktur, verlangen immer mehr Inder. Die Menschen sind jedoch auch überzeugt davon, dass bei einer Modernisierung der Straßen in großen Städten wie Kolkata der Verkehr völlig zusammenbrechen würde. Zudem müssten die Menschen vertrieben werden, die auf der Straße leben und arbeiten. Ein Beispiel sind die Commonwealth-Spiele im Jahr 2010 in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass im Zuge der "Stadtverschönerung" rund 200.000 Menschen - hauptsächlich Arme und fliegende Händler - aus der Innenstadt vertrieben wurden.

In Indien, Pakistan und Bangladesch leben zusammen 1,6 Milliarden Menschen. 15 der verseuchtesten Orte der Erde befinden sich mittlerweile in diesen drei Ländern. Die Luft in Kolkata, Lahore, Karatschi, Delhi, Mumbai oder Dhaka erreicht regelmäßig Feinstaubwerte von mehr als 400 Mikrogramm pro Kubikmeter. Schon 25 Mikrogramm Feinstaub gelten laut WHO als schädlich. (Gilbert Kolonko aus Kolkata, 28.5.2015)