"Die ganze Gesellschaft nimmt sich sehr viel weg, wenn nur ein Bruchteil der Bevölkerung Anteil hat": Musiker Ilker Ülsezer, Tänzerin Kaveri Sageder und die Brunnenpassage-Leiterinnen Anne Wiederhold und Ivana Pilić (von links).

Foto: Regine Hendrich

Wien – "Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen [...]" – so steht es in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nation. Dennoch sind viele Bürgerinnen und Bürger vom kulturellen Leben eines Landes, einer Stadt ausgeschlossen. Dies trifft vor allem auf Menschen mit Migrationsgeschichte zu, die von den Kulturinstitutionen gewohnheitsmäßig nicht adressiert werden.

Ivana Pilić und Anne Wiederhold haben, aufbauend auf ihren Erfahrungen als Leiterinnen des Wiener KunstSozialRaums Brunnenpassage in Wien, ein Buch darüber geschrieben, wie sehr es nottäte, der Unterrepräsentation von breiten Teilen der Bevölkerung entgegenzuwirken. Seit 2007 arbeiten sie in der Brunnenpassage an Konzepten für eine transkulturelle Gesellschaft. Ilker Ülsezer ist ebenda Leiter des Brunnenchors, Kaveri Sageder Tänzerin.

STANDARD: Kulturinstitutionen reproduzieren die soziale Ungleichheit der Bevölkerung. In Ihrem Buch plädieren Sie dafür, dass sich Institutionen mehr öffnen. Was genau ist gemeint?

Pilić: Es geht darum, einen neuen Begriff von Kunst zu denken, schon beim Programm neues Publikum mitzudenken. Es bedeutet auch, sich als Kulturinstitution selbst infrage zu stellen: Wo sind Barrieren für Zielgruppen? Wen adressiere ich?

Wiederhold: Es geht nicht darum, pro forma eine Schulklasse aus Favoriten durch das Museum zu schleusen, sondern die gesamte Haltung der Institution zu verändern. Als Brunnenpassage möchten wir großen Kultureinrichtungen dahingehend Impulse geben. Das Konzerthaus etwa kooperiert mit uns seit Jahren in diversen Formaten, u. a. bei "Sing Along".

Ülsezer: Dabei werden im ersten Teil des Abends die Lieder mit Profimusikern und dem Publikum geprobt, im zweiten Teil dann gemeinsam gesungen.

STANDARD: Partizipation gehört zu diesem Verständnis der Teilhabe?

Pilić: Ja, das Publikum sollte nicht immer nur in die Rezipientenrolle gedrängt werden.

Wiederhold: Es ist auch aus künstlerischer Sicht sinnvoll, etwa mit Mehrsprachigkeit zu arbeiten, es entsteht dadurch etwas Neues.

STANDARD: Ist nicht die soziale Differenz der eigentliche Ausschließungsgrund für viele Menschen?

Pilić: Auf Publikumsebene durchaus. Hier handelt es sich um soziale Fragen, die nicht zu Migrationsfragen überhöht werden sollten. Dennoch überschneiden sich diese Kategorien. Außerdem sehen wir, dass auch akademisch gebildete migrantische Künstlerinnen diskriminiert werden. Es genügt schon ein Name, um nicht zu einem Casting geladen zu werden.

STANDARD: Herr Ülsezer, Sie sind in Istanbul aufgewachsen, haben in Wien Komposition studiert. Wie haben Sie Barrieren erfahren?

Ülsezer: Als ausländischer Student habe ich wie jeder sehr schwierige Zeiten erlebt. Seit 2007 leite ich den Brunnenchor. Diskriminierung findet vielfach statt. Meine Einreise nach England für ein Gastspielkonzert musste jüngst wochenlang geprüft werden. Es kann auch passieren, dass jemand mit meinem Namen vom Kulturamt automatisch zur Integrationsabteilung weitergeschickt wird, obwohl es um ein Kunstprojekt geht.

STANDARD: Das sind Reflexe, auf Vorurteilen aufbauend. Menschen scheint das Bewusstsein zu fehlen.

Pilić: Es ist oft nicht böse gemeint, aber diskriminierende Strukturen sind fest verankert. Ein anderes Aussehen, eine andere Sprache genügt, um Menschen einen Mangel zu unterstellen.

STANDARD: Ist eine Quote sinnvoll?

Wiederhold: Eine Quote ist diskutierenswert. Die Gesellschaft ist nicht so weit, dass sich Institutionen automatisch öffnen, dass es "von selbst" Dramaturgen mit migrantischem Background gibt.

STANDARD: Frau Wiederhold, Sie waren in einer EU-Arbeitsgruppe, die kulturelle Vielfalt an großen Institutionen untersuchte. Wie sieht es für Österreich aus?

Wiederhold: Es gibt noch viel zu tun. Es gibt Länder in Europa, in denen massiv Zensur betrieben wird gegen Vielfalt, etwa in Ungarn. England, Schweden, Irland, Belgien sind da schon weiter, aber es gibt noch nirgends mutige kulturpolitische Schritte, die eine strukturelle Veränderung ermöglichen würden. Eine Quote einzuführen ist aber sehr komplex.

STANDARD: Frau Sageder, Sie kamen 2008 nach Österreich, wie haben Sie hier Fuß gefasst?

Sageder: Ich habe in Indien als Kathak-Tänzerin gearbeitet. Nach meiner Heirat übersiedelte ich nach Wien und war Nachbarin der Brunnenpassage, aber ich habe mich lange nicht getraut, hierherzukommen. Erst durch das Projekt "Zwischen Nachbarn" bin ich dazugestoßen. Ich wurde dadurch als Künstlerin sichtbar. Ich fühlte mich hier willkommen. Das war sehr wichtig, denn dann ist man nicht mehr allein.

STANDARD: Auf dem Viktor-Adler-Markt entsteht ein zweiter Standort nach dem Prinzip der Brunnenpassage. Sollte es nicht auf jedem Markt solche Anlaufstellen geben?

Wiederhold: Ja, der Stand 129 arbeitet seit einem Jahr in Favoriten. Wir sehen unser Buch als Möglichkeit, unsere Erfahrungen darüber hinaus weiterzugeben.

STANDARD: Wie lassen sich Strukturen an großen Häusern ändern?

Pilić: Man müsste zum Beispiel schon in jeder Ausbildung in Hinblick auf Strukturen von Diskriminierung sensibilisieren. Zusätzlich aber wäre eine Diversität im Personal sehr wichtig, weil man durch diese Vielfalt automatisch andere Blickwinkel erreicht.

STANDARD: Wie sollte beispielsweise das Volkstheater aussehen, um mehr Publikum anzusprechen?

Sageder: Also ich würde gern einen vielfältigeren Cast sehen.

Ülsezer: Bei einer Umfrage anlässlich eines deutsch-türkischen Stücks haben wir herausgefunden, dass 45 Prozent das erste Mal im Theater waren. Das zeigt, wie sehr potenzielles Publikum vom Theater ferngehalten wird.

STANDARD: Was würden Sie einem konservativen Slogan wie "Schnitzler wird uns gestohlen" entgeg-nen?

Pilić: Gestohlen wird vor allem den hier in zweiter und dritter Generation aufwachsenden Kindern etwas – ihnen wird Teilhabe vorenthalten. Das traditionelle Erbe wird ohnehin konserviert und ist auch wichtig.

STANDARD: Was sagt die EU-Arbeitsgruppe dazu?

Wiederhold: Wir haben in verschiedenen Fachgruppen gearbeitet, für die Bereiche Programm, Personal, Marketing und Orte der Begegnung. Auf all diesen Ebenen muss sich im öffentlichen Kulturbetrieb etwas ändern. Die ganze Gesellschaft nimmt sich sehr viel weg, wenn nur ein Bruchteil der Bevölkerung Anteil hat. Es führt zu einer absoluten Fadisierung und Verdummung. (Margarete Affenzeller, 17.7.2015)