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"Ich war nicht im falschen Körper, ich war in der falschen Welt", schreibt Rae Spoon über das Leben in einer zweigeschlechtlichen Welt.

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Rae Spoon & Ivan E. Coyote: "Goodbye Gender". Aus dem Englischen übersetzt von Lemon Thyme & Enys Novemba. w_orten & meer 2015

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"Meine Brüste sind einfach uneingeladen aufgetaucht", schreibt Ivan E. Coyote. Nach 19 Jahren und 20 Monaten des Versteckens, nach reiflicher Überlegung und vielen bürokratischen und finanziellen Hürden gelingt der radikale Schnitt: Die Brüste werden entfernt. Ivan schreibt, performt und hat sieben Bücher veröffentlicht, das neueste, "Goodbye Gender", das im Verlag w_orten & meer nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt (Interview dazu auf dieStandard.at). Gemeinsam mit Rae Spoon beschreibt Ivan in sehr persönlicher Weise, was es bedeutet, nie im richtigen Geschlecht zu sein. Deshalb haben die beiden beschlossen, in den Genderruhestand zu gehen und sich von den Zuschreibungen als Frau oder Mann völlig zu verabschieden. Aber gibt es das überhaupt, ein Leben ohne Gender?

Regeln der Zweigeschlechtlichkeit

Auf beeindruckend offene, teilweise auch sehr unterhaltsame Art erzählen die beiden in Wechselrede aus ihrem Leben. Ivan zum Beispiel, wie ein Familienmitglied auf den Brief mit der Nachricht über die Brustentfernung reagiert hat: "Ich wünschte, ich könnte meine auch loswerden. Mit denen könnte ich schon winken zum Abschied. In Liebe und bis bald, Oma Pat." Nicht immer sind die Reaktionen auf den Umgang mit der eigenen sexuellen Identität so positiv, und auch wird in dem Buch die Frage nach dem Geschlechtswechsel nicht verblödelt. Oft sind die beiden auch im beruflichen Umfeld sexueller Diskriminierung ausgesetzt, vor allem Rae weiß auch nach sieben Soloalben im Musikbusiness immer noch davon zu berichten.

Geboren und aufgewachsen sind beide in Kanada. Ivan erzählt davon unter anderem von den durchaus kalten Wintern in Yukon, wo ein Mann sich schon einmal selbst den Arm wieder einkegelt, wenn er betrunken mit seinem Truck von der Straße abgekommen ist. Es sei nicht einfach, sich von diesem "cowboyen" zu verabschieden: "Ich orientiere mich nicht mehr an den Männern in meiner Familie für meine Gesundheitsvorsorge." Bis dahin war es aber ein weiter, mitunter schmerzvoller Weg.

Sprache neu lernen

Auch Rae berichtet: Erst mit 20 wurde mir klar, "dass Gender eine Wahlmöglichkeit war". Später dann die Erkenntnis: "Ich war nicht im falschen Körper, ich war in der falschen Welt." Dass es ihn nicht gibt, den perfekten weiblichen oder männlichen Körper, ist eine Erkenntnis, die für jede LeserIn dieses Buches entlastend und hilfreich sein kann. Rae eröffnete sie die Möglichkeit, Countrysänger und transgender zu werden, "gleichzeitig, aber nicht eines wegen des anderen".

Sehr erhellend ist das Kapitel "Gender auf Youtube", in dem die Reaktionen auf eines von Raes Videos aus dem Jahr 2008 wiedergegeben werden. Sie machen verständlicher, wie Ray zum "x" kam: "Ich hatte zehn Jahre damit verbracht, Leute davon zu überzeugen, mich als 'er' anzusprechen, und genauso viele Jahre jünger war diese Person, die als 'x' bezeichnet werden wollte. Darüber weiß ich nichts, sagte ich herablassend. Ich fand es schwierig, 'x' als Pronomen für andere zu benutzen, wenn ich von 'er' oder 'sie' in einem Satz zu 'x' wechseln musste … Es fühlte sich an, als müsste ich eine Sprache wieder neu lernen."

Neue Freiheiten durch "x"

Inzwischen sind beide, Rae und Ivan, davon überzeugt, dass dieses "x", auch wenn es anfangs sperrig und ungewohnt ist, ihnen und anderen völlig neue Freiheiten zugesteht. "Ich dachte viel darüber nach, wie sexistisch die Regeln der Zweigeschlechtlichkeit waren. Als der Druck wegfiel, meinen Körper maskuliner erscheinen zu lassen, um mir ein Pronomen zu verdienen, fing ich an, grundsätzlicher über Körper nachzudenken."

Heute haben sich beide Künstlx von der Zweigeschlechtlichkeit verabschiedet. Das Argument, die Verwendung von "x" sei verwirrend und grammatikalisch falsch, lassen sie nicht gelten und führen historische Beispiele von politischen Sprachveränderungen ins Treffen. Sie wollen anderen, vor allem jungen Menschen Mut machen: "Ich bin optimistisch, dass es eine Zukunft für meinen Genderruhestand gibt", schreibt Rae. Diesen Gedanken auch im deutschsprachigen Raum wohlargumentiert zur Disposition zu stellen ist vor allem nach der Debatte um genderneutrale Bezeichnungen im Vorjahr überfällig und richtig. (Tanja Paar, 2.9.2015)