Foto: Piper Verlag
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In ihrem Denken aktuell geblieben: Hannah Arendt (von oben nach unten), 1933, Anfang der 40er-Jahre in Paris und 1963.
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Schulen heißen nach Hannah Arendt. Preise für politisches Denken werden in ihrem Namen verliehen. Ein Forschungsinstitut in Dresden ist ihr gewidmet und ein Eisenbahnschnellzug, der Kiel mit Stuttgart verbindet, Städte, die in keinerlei biografischer Verbindung mit der gebürtigen Königsbergerin stehen. Eine von drei Straßen, die infolge des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas von Peter Eisenman in der Mitte Berlins neu entstanden, wurde nach ihr benannt.

Im Jahr 2001 versammelten sich in Zürich über Wochen hinweg regelmäßig mehrere hundert Zuhörer, die einer Lesung anlässlich der 50. Wiederkehr der Erstveröffentlichung ihres Hauptwerks Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft konzentriert folgten. In einer anspruchsvollen Biografiereihe für Jugendliche ist sie ebenso vertreten wie Nelson Mandela, Che Guevara und Martin Luther King. Und in einer Reihe über große Paare erschien ein Buch über sie und ihren zweiten Mann Seite an Seite mit Bänden über Marilyn Monroe/Arthur Miller und John F./Jackie Kennedy.

Wie erklärt sich all das? Biografisch als Wiedereinbürgerungsversuche eines Landes, das sie im Namen einer Diktatur einst fast ermordete und dessen Häschern sie nur knapp entkam? Hannah Arendt, die am 4. Dezember 1975 im Alter von 69 Jahren in ihrer New Yorker Wohnung auf dieselbe Weise starb wie 1970 ihr Ehemann Heinrich Blücher, an einem Herzinfarkt während eines Gesprächs mit Freunden, ist, so der Arendt-Forscher Steven Aschheim, "so etwas wie eine Ikone" geworden. Beim Versuch, die Renaissance ihres Denkens, die vor rund einem Jahrzehnt eingesetzt hat, zu explizieren, ist es ratsam, sich der Einschätzung des wie Aschheim in Jerusalem beheimateten Publizisten Amos Elon zu entsinnen: "Hannah Arendt bleibt eine anregende intellektuelle Gestalt auch deshalb, weil sie den Konventionen und Normen des akademischen Betriebs ihren Respekt verweigerte. Die Mischung aus Analyse, anspruchsvollem Journalismus, Philosophie, Psychologie, Literatur und Anekdote, die für manche ihrer Werke charakteristisch ist - gerade diese Qualitäten faszinieren heute und reizen zur Auseinandersetzung."

Diese Auseinandersetzung greift weit über die akademische Gemeinde der Editoren und Exegeten hinaus. Für die Intellektuellen Mittel-und Osteuropas, Václav Havel etwa, war Hannah Arendt während der Zeit eines in Blöcken geteilten und in der einen Hälfte von bürokratischen Diktaturen bis zur Unkenntlichkeit entstellten Europas einer der wichtigsten Denker überhaupt. Denn in ihren Büchern figuriert Freiheit als zentraler Wert. Darauf zielt auch die magistrale Einführung des Münchner Politikwissenschafters Kurt Sontheimer in ihr Werk ab. Mit entspannter Souveränität schildert der renommierte linksliberale Gelehrte, der im Sommer 2005 vor Drucklegung seines Buches verstarb, Arendts Leitprinzipien, ihr Jüdischsein, ihre Wehrhaftigkeit, ihr Nachdenken über die Totalitarismen und Traditionsbrüche des 20. Jahrhunderts. Er skizziert auch für Arendt wichtige Menschen, wie etwa den Philosophen Martin Heidegger. Mit ihm begann sie als Studentin ein Verhältnis, die Beziehung wandelte sich zu Freundschaft und hielt, trotz der Wendung des Denkers aus Meßkirch zum Nationalsozialismus und völlig unterschiedlicher Existenzumstände, ein Leben lang. Hannah Arendt war für ihn die größte Liebe seines Lebens. Umgekehrt bekannte Arendt: "Wie und was ich bin, geht auf Heidegger zurück; ihm verdanke ich alles!"

Sontheimer bietet in seiner angenehm lesbaren Studie eine einleuchtende Erklärung für das neu erstarkte Interesse an: "Vielmehr sind es die Entschiedenheit und Einzigartigkeit, womit sie den Totalitarismus als ein die Grundlagen der westlichen Zivilisation zerstörendes Phänomen ins Auge fasste, das auch nach dem Verschwinden der beiden großen totalitären Systeme, Nationalsozialismus und Stalinismus, eine latente Bedrohung für unsere Welt geblieben ist. Wir verdanken dieser Autorin die durchdringendste Beschreibung einer gegen die Prinzipien des Menschseins gerichteten, neuartigen historischen Unternehmung, die im Totalitarismus sich anschickte, der Welt und den Menschen in ihr eine neue, alle Freiheit und Individualität total zerstörende Richtung zu geben."

Die ungarische Philosophin Agnes Heller, selbst durch eine Diktatur zur Emigration gezwungen, fasste ihre Faszination in folgende Worte: "Das Faszinierendste für mich war immer Hannah Arendts Marginalität. Sie ist nie eine offizielle akademische Philosophin gewesen. Philosophie . . . war für sie Leben, war Verantwortung und Sinn. Die Sache der Philosophie war die Sache des Lebens und des Todes. Und diese Haltung, die immer eine marginale Haltung ist, ist deshalb so wichtig, weil . . . das Neue immer von den Grenzen kommt und nicht vom Mittelpunkt. Der Mittelpunkt ist versteinert, ist nicht mehr dynamisch. Das Denken, das aus der Peripherie kommt, ist dynamisch."

Ebendiese Dynamik, die auf kein abgeschlossenes System zielt, sondern auf den Menschen in seiner Gegenwartsexistenz und seiner Gegenwartsbedingtheit, zeichnet Hannah Arendts Denken aus. "Verstehen heißt", schrieb sie einmal, "die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, untersuchen und bewußt ertragen - und zwar in einer Weise, die weder deren Existenz leugnet noch sich unter deren Gewicht duckt. Kurz gesagt: Verstehen heißt, unvoreingenommen und aufmerksam der Wirklichkeit, wie immer sie ausschauen mag, ins Gesicht zu sehen und ihr zu widerstehen."

Barbara Hahns Buch über Arendt hingegen ist eine wirklichkeitsabgewandte Marginalie. Denn dieser schmale Band ist keineswegs eine Promenade durch "Räume" und "Türen" des Denktagebuches, das Arendt von 1950 bis zu ihrem Tod führte und welches, in Druckform mehr als 1200 Seiten umfassend, erst im Jahr 2002 publiziert wurde. Leidenschaften, Menschen, Bücher, wie der Untertitel insinuiert - Fehlanzeige. Die Deutsche Barbara Hahn lebt und lehrt seit Jahren in den Vereinigten Staaten Germanistik, seit Kurzem an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Publiziert hat sie viel über die Romantik sowie über die "Jüdin Pallas Athene". Auf diesen Hintergrund hinzuweisen, ist essenziell, denn dieses Buch zeigt, dass die amerikanische Methode des von Hahn praktizierten "close reading", des Satz für Satz nachgehenden Sinnsuchens und Sinndeutens, einen elementaren Fehler hat. Sklavisch über Wörter, Sätze und Satzelemente gebeugt, beschneidet dies das Sichtfeld entscheidend. Eine Welt von Gedanken wird so ganz Wort.

Hahn wagt sich an keine Einordnung. Es ist keine Wegführung durch Arendts Opus. Über das Denktagebuch legt Hahn vielmehr ein eigenes Denktagebuch. Sie deutet Briefstellen, Gedichte und Schilderungen von Träumen. Merkwürdig oszilliert ihr künstlich auf Kurzatmigkeit und meditatives Posieren hingetrimmter Text zwischen exaktem Bestimmen und Einkreisen und eigenwilligem Weiterfantasieren. Da häufen sich dann verräterische Konjunktive und biegsame Füllwörter wie vielleicht oder möglicherweise, die eines zeigen, nämlich die Kunst des Interpretierens als kunstreiches Improvisieren. Die Kunst des Lesens bestätigt sich, als einfallsreicher Kunstgriff, an einem Text, der nie Dichtung gewesen ist, aber durch das emphatische Sprechen über ihn zum Kunst-Werk geadelt wird. "(Arendts) Vita activa ist in einer Sprache geschrieben, die es nach 1945 in Deutschland nicht mehr einfach geben konnte", liest man da beispielsweise. Und staunt, denn, man traut seinen Augen kaum, dies sei "ein Deutsch, in dieser Zeit angesiedelt, in jedem Wort, in jedem Satz des Traditionsbruches gewahr; nur das wird zitiert und weitergetragen, was keinen Schaden genommen hat."

Auf der Strecke bleibt, abgehängt bei solchen grotesken Übertreibungen und von anderen syntaktischen Taschenspielertricks, der Leser. Auf ihn wird nie abgezielt. Wieso auch, setzt doch Hahn stillschweigend eine tiefe Vertrautheit mit Leben und Werk Hannah Arendts voraus. So bestätigt Barbara Hahn ein weiteres Mal Kurt Sontheimers treffenden maliziösen Seitenhieb, gemünzt auf Geisteswissenschafter, welche sich über Arendts Bücher bar jeder Kenntnisse von Politik oder politischer Theorie beugen.

Verglichen damit ist Stefan Ahrens' Untersuchung akademisch nüchtern und gehaltvoll. Er konzentriert sich auf die Legitimität von Rechts-und Herrschaftsordnungen, eine der zentralen Problemstellungen moderner politischer Theorie. Das Legitimitätsproblem kann heute nicht mehr mittels religiöser oder dynastischer Souveränität gelöst werden. Ebenso wenig kann die Alternative sein, diese intellektuelle Leerstelle der Legitimität moderner Demokratien stillschweigend als Schwachpunkt zu akzeptieren und möglichst unerwähnt zu lassen, oder aber sie auf den Aspekt einer rein technokratischen "Ewigkeitsgarantie" bestimmter Verfassungsartikel zu reduzieren.

Elisabeth Young-Bruehl wählte 1982 für ihre große Biografie über Hannah Arendt als Untertitel die Formulierung "For Love of the World", aus Liebe zur Welt. In der deutschen Ausgabe wurde das zum Stakkato "Leben, Werk und Zeit" verändert. Diese Neugierde und Arendts stets konkrete Menschen- und Weltzugewandtheit belegen auch die neu aufgelegten, klug zusammengestellten Sammelbände Denken ohne Geländer und Ich will verstehen.

Deutlich zutage tritt bei den darin enthaltenen Auszügen, Interviews und wiedergegebenen Fernsehgesprächen auch die Selbstreflexivität einer kritischen Intellektuellen. Anlässlich einer Podiumsdiskussion bekannte sie einmal pro domo: "Ich meine, dass alles Denken - die Art, in der ich mich ihm hingegeben habe, ist vielleicht ein wenig außerhalb des Normalen, ein wenig extravagant - das Merkmal des Vorläufig-Seins trägt."

Arendt lesen, heißt: selbst denken. Ihre Botschaft ist an Bürger demokratischer Gesellschaften gerichtet. Ihr Appell richtet sich auf ein Handeln in Verantwortung für sich und für andere, auf Respekt, Pluralität und gegenseitiges Vertrauen. Agnes Heller drückte dies so aus: "Hannah Arendt ist auch einer meiner Freunde im Denken. Weil sie der Versuchung widerstanden hat, ein System zu schaffen, weil sie alle 'Ismen' verabscheute, weil sie die Marginalität akzeptierte, ohne sich damit selbst weh zu tun oder zu verbittern. Weil sie in den Begriffen von Vergänglichkeit und Endlichkeit dachte. Weil sie unserem Zeitalter und unserem Wissen keine privilegierte Position in der sogenannten Geschichte zuordnete; weil sie ihrer Fehlbarkeit bewußt war; weil sie leidenschaftlich war, aber nie zornig; ... weil ihre Philosophie freundlich und einladend ist." (DER STANDARD, Album, 3./4.12.2005)