Buchcover
Dass im Internet tatsächlich Gender unabhängig von der Kategorie Sex gedacht werden kann, lässt wesentliches Potenzial zur subversiven Unterwanderung der bipolaren, heterosexuellen Geschlechterordnung im Cyberspace erkennen. Doch wird dieses auch genutzt, fragt Valerie Lübke in ihrer Dissertation, die diesjährig im Ulrike Helmer Verlag in Buchform erschienen ist.

Das Internet ist als Raum zu begreifen, der nicht einfach "da" ist, sondern sich nach relativistischem Verständnis durch Handlungen konstituiert, legt Lübke im theoretischen Teil ihrer Arbeit dar - sowie sich auch "Gender" nicht über die Kategorien Sex und Natur, sondern - Butlers Theorie zufolge - durch performative, wiederholende Akte in einem ständig neu hervorgebrachten Prozess konstituiert: "Gender" in (anonymer) computergestützter Kommunikation sollte "nicht als pre-formed, sondern als per-formed" betrachtet werden.

Der Körper stellt in dieser Form der Kommunikation die Verbindungsstelle zwischen irdischen, wie sie schreibt, und virtuellen Räumen dar - und wird auf vielfältige Weise im Netz simuliert, auch jenseits des traditionellen Geschlechterbegriffs. Sehrwohl bietet sich die Möglichkeit des Auftritts im jeweils anderen Geschlecht, kann er/sie relativ unverfänglich damit spielen - die Anonymität macht es nur schwer nachweisbar, ob er/sie im Real Life tatsächlich im jeweiligen Körper steckt.
Lübke sieht in diesem "Genderswapping" jedoch die Ausnahme; sie verweist auf die Beharrlichkeit der UserInnenschaft auf eine strikte Geschlechterordnung.
Auch im virtuellen Raum kämen den Normen und Werten der sozialen Wirklichkeit authentizitätsstiftende Funktion zu, die früheren gender-utopischen Annahmen zB einer Sherry Turkle widersprechen: Die Nutzerinnen und Nutzer - nicht nur in Räumen, die zum Daten oder Flirten gedacht sind - wollen sich der/des Anderen versichern, auch über die Kategorie Geschlecht. Diese Festlegung diene der Akzeptanz und Verständigung im körperlos erscheinenden Netz.

Dennoch sieht Lübke in der "Identitätswerkstätte" Internet viel "Spiel"raum für gegenteilige Entwicklungen. Da virtuell gemachte Erfahrungen Einfluss auf gelebte leiblich-affektive Zustände hätten, könnte die Kategorie Geschlecht an Relevanz verlieren - solange dies von der UserInnenschaft zugelassen würde.
Authentizität ist alle Fälle von großer Wichtigkeit, sei es der "echten" oder eben der gewählten Geschlechterrolle entsprechend. Denn von geschlechterstereotypen Vorstellungen abweichende Verhaltensmuster haben nur bedingt Chance auf Akzeptanz.

In weiteren Abschnitten geht die Autorin auf geschlechtsspezifische Nutzung der computerbasierten Kommunikation ein, sowie sie in einer explizit explorativen Studie dem Gender so genannter "Chatterbots" auf den Grund geht. Das Netz wird weiblicher, lautet das Fazit des erst Genannten. Die von Lübke selbst durchgeführte Studie zu den computeranimierten Geschöpfen zeigt wieder: Der "Transhumanismus", das Aufweichen der Grenzen zwischen Mensch und Maschine verkörpert durch diese Bots, löst weit weniger Unbehagen aus als die Erosion der Geschlechterordnung. (bto)