"Die Grenzen sind instabil, politische Ideen, wir können auf nichts vertrauen": Olga Tokarczuk.
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In ihrem Roman "Letzte Geschichten" bewegt sich die polnische Autorin Olga Tokarczuk im Grenzland zwischen Leben und Tod. Eine Spurensuche, die sie zu einer Lesung auch nach Wien führte.


Wien - Olga Tokarczuk schätzt Wien. Vor allem das Josephinum. Tage verbringt sie in den Sälen des Museums für die Geschichte der Medizin vor den historischen Präparaten des menschlichen Körpers. Solche Museen, vermutet die polnische Autorin, seien eine Spezialität Zentraleuropas. Nur in der Berliner Charité und in den Niederlanden kenne sie Vergleichbares.

Was, so mutmaßt sie im Gespräch mit dem STANDARD fort, mit der zentraleuropäischen "Obsession für alles Instabile" in Verbindung stehen könne. "Die Grenzen sind instabil, politische Ideen, wir können auf nichts vertrauen. Alles ist wie im Traum, brüchig, sich wandelnd. Das ist eine Erfahrung, die wir in Polen sehr stark empfinden. Und die Idee, den menschlichen Körper zu konservieren, könnte von diesem Gefühl herrühren. Um so etwas zerbrechlichem wie dem menschlichen Körper Dauer zu verleihen."

Der Ausgesetztheit des menschlichen Körpers in der Welt, seiner Verletzlichkeit, Tod und Verwesung - und dem Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz jenseits der physischen Existenz spürt sie auch in ihrem jüngsten Roman nach. Letzte Geschichten reiht die Schicksale dreier Frauen, Mutter, Großmutter, Tochter zu einer Art stillem Todesreigen. In Teil eins - Das reine Land - findet sich Ida, nach einem Autounfall in der Schneewüste, wieder in einem merkwürdigen Haus: Ein altes Ehepaar nimmt sie auf.

Die Herberge enthüllt sich im Lauf der Erzählung als Ort des Sterbens - eine Art Hospiz für todgeweihte Tiere. Motive des Todes durchziehen die Erzählung auf vielfältigste Weise: Der Tod des Blicks in den Reisegruppen, die Ida, die Reiseführerin, in fünf Tagen durch Europas Hauptstädte karrt. Der Tod der Gefühle, ihre schale Imitation im Kitsch, dem ihr ehemaliger Mann, ein Historiker, nachspürt. Auch die Liebe ist abgestorben.

Der blinde Blick

Warum reisen Reisende mit geschlossenen Augen? Was suchen jene Millionen, die sich in enge Busse zwängen, um blinden Blicks durch Europas Museen zu trotten? "Ich glaube, das Reisen ist eine Suche", so Tokarczuk. "Die Menschen suchen hoffnungslos nach etwas, das sie davon überzeugt, dass es etwas außerhalb jener Welt gibt, deren Bilder sie aus dem Fernsehen kennen. Etwas, was das Leben transzendiert. Unbewusste Pilger, die nicht wissen, wonach sie suchen. Das Bedürfnis zu reisen ist religiös."

Diese Suche nach Transzendenz jenseits des physischen Verfalls, auch sie durchzieht Tokarczuks Erzählungen. In Teil drei des Romans - Der Magier - nimmt sie Gestalt an in der Figur eines alternden Zauberers. Wie die sinnentleerten Rituale der Kirche bezaubern seine Kunststücke das Publikum - doch den Hunger stillen sie nicht. "Diese leeren Hüllen sind wie Plastiknahrung - schön anzusehen, doch sie macht nicht satt."

Ganz nebenbei und sehr verborgen, schrieb Olga Tokarczuk mit der Geschichte um Kisz, den sterbenden Magier, eine Paraphrase auf Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig. War doch Tadzio, der Knabe des Begehrens für den alternden Dichter Gustav Aschenbach, ein junger Pole. Nun erzählt Tokarczuk die Begegnung aus der Sicht der besorgten Mutter des 11-Jährigen, Idas Tochter Maja, der Protagonistin dieses letzten Teils. Auch sie ist eine Reisende: Als Autorin von Reiseführern zieht sie rastlos mit ihrem Sohn um die Welt. Dass die Fülle der Eindrücke die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Einzelheiten eher lähmt als schult, spiegelt Tokarczuks Stil, der hier weitgehend auf Beschreibungen verzichtet.

Ruhendes Zentrum des weiblichen Triptychons hingegen ist die alte Paraskewia, Idas Mutter, Majas Großmutter. Seit Jahrzehnten lebt sie mit ihrem Mann oben auf einem Berg, zwangsumgesiedelt nach dem Krieg aus dem polnischen Osten in den einst deutschen Westen, wo auch Olga Tokarczuk lebt, in einem kleinen Dorf im einstigen Niederschlesien.

Die Stille des Bergs

Paraskewias Ehe war eine Vernunftehe, die Einsamkeit auf dem Berg anfangs verhasst. Und doch durchzieht ihre Erinnerungen eine Lichtspur des Glücks, woran die Weisheit ihrer Tante Marynka ihren Teil haben dürfte.

"Beruhige dich, Kind", hatte Marynka gesagt, als sie ein Jahr lang kein Wort sprach aus Wut über das ungeliebte Leben am fremden Ort. "Es gibt keinen Ort, an den du zurückkehren kannst. Hier, wo wir jetzt sind, geht es nur noch voran, es gibt nur noch Zukunft, nur noch ein Danach, die Zukunft ist die einzige Zeit. Häng Vorhänge an die Fenster und besorg irgendwo eine Katze, denn das Haus ist voller Mäuse."

Eine Ahnung von Transzendenz liegt paradoxerweise just in jenem irdischen Pragmatismus. Und in den Sternbildern, die nachts über dem Berg funkeln - etwa das "Haar der Berenice". Konstellationen, die erst im Hirn des Menschen entstehen, was Tokarczuk wiederum fasziniert. "Am Himmel gibt es keine Figur, dort existieren nur einzelne Sterne. Sie entsteht in unserem Kopf. So nehmen wir die Welt wahr. Die Welt selbst ist chaotisch, wir bilden Figuren, gruppieren, erfinden Ordnungen." Weshalb sie für ihren nächsten Roman einen neuen Gattungsnamen ersann - ein "Konstellations-Roman" soll er werden. In dem Motive und Orte sich stets neu überlagern und verknüpfen. Etwa das Wiener Josephinum. In das sie nun entschwindet. (Cornelia Niedermeier/D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 30.6. 2006)