Anna Mitgutsch
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Eine Frau schreibt Briefe an ihren Ehemann, von dem sie geschieden ist und dem sie dennoch für immer verbunden bleibt. Aber dies ist keine Liebesgeschichte der üblichen Art. Denn Anna Mitgutsch, die in ihrem neuen Roman auch sichtbar Autobiografisches bearbeitet, ist noch nie eine Autorin der banal-einfachen Handlungen gewesen.

Sie beschränkt die Figuren auf drei Personen: Edith, die Briefeschreiberin, den Adressaten Leonard und den Sohn Gabriel, der als Kind eine nicht identifizierte Infektion überstanden hat und seit damals anders ist als so genannte "normale" Kinder.

Der Vierte in der Geschichte ist schon lange tot und eine posthume Berühmtheit: Es ist der Schriftsteller Herman Melville. Als Leonard und Edith sich kennen lernten, waren beide fasziniert von Melville. Sie wollten zusammen eine große Melville-Biografie schreiben. Es ist beim Faktensammeln geblieben. Aber der unglückliche Schriftsteller, der nirgendwo wirklich zu Hause sein konnte, ist ein bestürzend eindringliches Spiegelbild für die Familie geworden, die nicht miteinander und nicht ohne einander leben kann. Er wird zu einem gemeinsamen Anker der wurzellosen Weltreisenden. "Ich jedenfalls habe es nötig, mich ein wenig an der Glut eines fremden Lebens zu wärmen", schreibt Edith, die Leonhard viele Jahre auf seinen wechselnden Arbeitsstätten in der ganzen Welt begleitet hat und schließlich mit ihrem erwachsenen Sohn in das Haus ihrer Vorfahren nach Österreich zurückgekehrt ist.

Vielleicht findet Gabriel sich deshalb in der realen Umwelt nicht zurecht, weil er als Kind ständigen Veränderungen unterworfen gewesen ist, vielleicht hat Edith als junge, verstörte Mutter damals in Seoul nicht hartnäckig genug von den Ärzten alles Menschenmögliche gefordert, um ihr Kind zu behandeln; Edith nimmt jedenfalls die Schuld auf sich, irgendwann nicht genug getan zu haben, während Leonard, an den sie die Briefe schreibt, aber nicht abschickt, offensichtlich nicht bereit oder imstande ist, Edith zu entlasten.

Melville, der Unangepasste, der Depressive, wurde von seiner Familie aufs Meer geschickt - heute wäre er in der Psychiatrie gelandet, meint Edith. Ein Schicksal, das auch Gabriel immer wieder droht und das sie mit aller Kraft verhindert, immer in Angst, dass die Zumutungen, die Abweisungen des Alltags Gabriel einmal ausrasten lassen und sie ihn dann nicht mehr vor den Konsequenzen schützen kann. "In der Literatur lieben wir jene, die dem Leben nicht gewachsen, vom Schicksal gezeichnet sind, wir finden uns selber in ihnen wieder, missverstanden und tragisch in unserem Scheitern. ... Die Wirklichkeit ist weniger grandios und weniger ergreifend. Eine literarische Figur für die Konsequenz, mit der sie scheitert, zu bewundern und hilflos zuzusehen, wie sich diese Folgerichtigkeit im Leben Deines Kindes abzeichnet, das sind sehr verschiedene Dinge", weiß Edith.

Nicht mit anderen Menschen verbunden zu sein, ihre Emotionen nicht verstehen zu können, arglos einseitige Freundschaften zu schließen, das teilt Gabriel in gewisser Weise mit Melville, der mit seiner eigenen Familie, mit seinen eigenen Kindern wenig anzufangen wusste und der sich mit einer enthusiastischen Begeisterung den Dichter Nathaniel Hawthorne zum Freund gewünscht hat. Der aber wird des allzu überschwänglichen Verehrers bald überdrüssig. Melville hatte sich verschuldet und in Hawthornes Nachbarschaft eine Farm gekauft, nur um gleichgültig fallen gelassen zu werden. Diese Details sind wahrhaft herzzerreißend, aber Mitgutsch ist unsentimental. Melvilles stoischer Gang auf den Abgrund zu ist kompromisslos. Euphorische Höhenflüge und finsterste Verzweiflung wechseln einander ab. Die Familie will, dass er "normal" ist, seinen Lebensunterhalt verdient, statt seinen Geist durch manisches Schreiben zu zerrütten und für seine Werke doch nur die Häme der Kritiker zu erfahren.

Der Text ist voller unaufdringlicher Symbolkraft: So finden die vergeblichen Bemühungen, sesshaft zu werden, ihren Ausdruck im Interesse Ediths für alte Landkarten. Sich zu orientieren, zu verorten - Leonard versucht es mit einer anderen Frau, Edith damit, ihr Hobby zu einer Existenzgrundlage zu machen. Beiden misslingt das. Die einzigen Augenblicke, wo Edith in ihren Erinnerungen das Gefühl der Zusammengehörigkeit bewahren kann, sind die gemeinsamen Autofahrten, oft zu den Plätzen, wo Melville lebte, seltene Momente der Sicherheit, wenn Gabriel sich wohl gefühlt hat und die verführerische Illusion einer nicht zu erlangenden Normalität aufschimmert.

Während Edith die Jahrzehnte ihrer brüchigen Gemeinschaft rekapituliert, nimmt sie selbst Abschied vom Leben. Das erzählende Ich verstummt, der Tag im Leben Gabriels wird geschildert, als dieser sich aufmacht aus dem Haus der toten Mutter, aus dem er vertrieben wurde. Vielleicht wirkt das Schlussbild allzu drastisch, die Inszenierung allzu wüst. Aber Mitgutsch ist in ihrem Schreiben immer ohne Zugeständnisse an pastellfarbene Versöhnlichkeit gewesen. Streng, genau, scheinbar einfach und doch immer hochkomplex, ohne weinerliche Nabelschau erforscht sie Seelenlandschaften, in denen es um die grundlegenden Fragen der Existenz geht. Dass der Roman trotzdem keineswegs düster und hoffnungslos wirkt, macht einen Teil seiner Faszination aus. Und es ist ja wahr: Einen Platz zu finden in der Welt scheint unendlich schwierig. (Ingeborg Sperl, DER STANDARD, Print, 3./4.2.2007)