Zur Person

Elia Bragagna (l.) (51) hat in Wien Medizin studiert. Die gebürtige Italienerin ist Ärztin für Psycho- und Sexualtherapie und leitet die vor vier Jahren eröffnete Sexualambulanz am Wiener Wilhelminenspital. Im Dezember organisierte sie im Rathaus einen von 6500 Wienern und Wienerinnen besuchten Informationstag für Sexualität und Gesundheit. Seit Februar ist Bragagna Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Sexualmedizin (ASSM).

Anita Clayton (r.) (50) ist Professorin für Psychiatrie an ihrer Alma Mater, der University of Virginia in Charlottesville, USA. Sie ist durch Forschungen über die Nebenwirkungen von Psychopharmaka auf das Sexualleben und über weibliche Sexualstörungen bekannt geworden. Clayton hat eine Reihe klinischer Medikamentenstudien geleitet. Ihr Buch "Wie Frauen lieben. Das Geheimnis weiblicher Sexualität" ist bei C. Bertelsmann (2007) erschienen.
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Gibt es ein weibliches Pendant zur Erektions­störung? Stefan Löffler bat die US-Psychiaterin Anita Clayton und ihre Wiener Kollegin Elia Bragagna zur Diskussion.

STANDARD: Einer viel zitierten Studie zufolge sind 43 Prozent der Amerikanerinnen mit ihrem Sexualleben unzufrieden.

Clayton: Und zwar allein bezogen auf das zurückliegende Jahr und unter der Voraussetzung, dass sie sexuell aktiv waren. Die Zahl der Unzufriedenen ist also höher.

Bragagna: Ich mag solche Umfragen nicht mehr hören. Journalisten fragen mich immer, wie oft die Österreicher Sex haben. Antworten soll ich am besten, dass wir es ständig wollen und drei-, viermal die Woche tun. Jugendliche lesen diese Statistiken und fühlen sich unter Druck, sexuell aktiver zu sein, als sie es aus sich selbst wollen.

Clayton: Menschen, die über ihr Sexleben sprechen, protzen gewöhnlich. Es gibt keinen ehrlichen Austausch, was normal ist. Ich sage nicht, dass jede zweite Frau sexuell gestört ist, sondern dass viele Frauen unbefriedigt sind. Zwischen dem eigenen Sexleben und dem, was durch Kultur und Medien über Sex vermittelt wird, klafft eine enorme Lücke.

STANDARD: Sollten Medien nicht aufklären, wie viel Sex normal ist?

Clayton: Eine Bandbreite anzugeben wäre besser. In den USA ist viel über die so genannte sexlose Ehe geschrieben worden, definiert als Paare, die nicht mehr als zehnmal im Jahr miteinander schlafen. Aber zehnmal im Jahr ist doch nicht sexlos. Es gibt Paare, die damit vollauf zufrieden sind. Wenn das abwertend bezeichnet wird, denken die Leute, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung.

STANDARD: Ein anderes Lieblingsthema der Medien ist der weibliche Orgasmus.

Clayton: Wollen Sie jetzt wissen, was eine Frau tun muss, um einen Orgasmus zu haben? Um mehrfache Orgasmen zu haben? Ich habe junge Patientinnen, die mit zwanzig Männern geschlafen, aber noch nie masturbiert haben. In den USA ist Selbstbefriedigung tabu, und als Konsequenz lernen sie ihren Körper nicht richtig kennen.

STANDARD: Sind die Österreicherinnen weiter?

Bragagna: In Gesprächen mit jungen Frauen stelle ich oft fest, dass sie den Unterschied zwischen Klitoris und Vagina nicht kennen. Obwohl immer mehr Sex in den Medien ist, wissen sie weniger als früher.

Clayton: Wir werten im Moment eine klinische Studie über Frauen mit Orgasmusstörungen aus. Bisher kann ich nur sagen, es sieht nicht gut aus für die Behandlung, die wir erprobt haben. Ich fürchte, die Pille, die einen Orgasmus auslösen hilft, wird es so bald nicht geben.

STANDARD: Kritikern zufolge hat die Pharmaindustrie das weibliche Pendant zur Impotenz, die "weibliche sexuelle Dysfunktion", erfunden.

Clayton: Das Argument, das Menschen auf ihre Biologie reduziert, blendet die Psyche aus. Und das gilt für alle Erkrankungen des zentralen Nervensystems, bei denen es im Grunde genommen immer um elektrochemische Impulse im Gehirn geht. Ich finde es paternalistisch, die Leute vor der Pharmaindustrie schützen zu wollen. Informierte Patientinnen können beurteilen, was sie brauchen.

STANDARD: Seit zehn Jahren werden Erektionsprobleme mit PDE5-Hemmern behandelt. Haben Sie Viagra auch schon Frauen verschrieben?

Bragagna: Ich habe viele Patientinnen mit Diabetes, Bluthochdruck, metabolischem Syndrom. Wenn ich die Frau gut kenne und die Diagnose es ergibt, versuchen wir es mit einem PDE5-Hemmer.

Clayton: Ich verschreibe das nur noch selten, eigentlich erst, wenn andere Optionen erschöpft sind. An der klinischen Erprobung von PDE5-Hemmern für Frauen war ich beteiligt. Bei einer begrenzten Zahl von Frauen funktioniert es. Aber nur etwa im gleichen Ausmaß wie ein Placebo. Was sich in den weiblichen Genitalien messen lässt, stimmt nicht damit überein, was Frauen subjektiv erleben. Sex spielt sich bei Frauen viel mehr im Kopf ab.

Bragagna: Die psychologischen Faktoren spielen auch bei Männern eine Rolle. Es gibt Männer, die gebildet, körperbewusst und nicht nur auf den Orgasmus aus sind.

Clayton: Sondern auf emotionale Nähe. Was ich sage, ist, dass es bei Männern eine leichtere Lösung gibt, um den Sexualtrieb anzukurbeln.

STANDARD: Wenn Sex bei Frauen Kopfsache ist, können Medikamente dann wirken?

Clayton: Es gibt eine biologische Basis, an der man ansetzen kann. Neben Hormonen spielen Neurotransmitter wie Dopamin eine Rolle. Die ersten klinischen Studien zu Behandlungen, die am Dopaminrezeptor ansetzen, haben gerade begonnen. Bei Frauen ist es wahrscheinlich ein bisschen hiervon, ein bisschen davon - anders als bei Männern, deren Sextrieb auf geradlinige Weise von Testosteron gesteuert ist.

STANDARD: Ein Testosteronpflaster für Frauen, Markenname Intrinsa, ist in Europa zugelassen und soll etwa Ende des Jahres auf den österreichischen Markt kommen.

Bragagna: Es ist nur für Frauen, die nach der Entfernung ihrer Eierstöcke und Gebärmutter selbst kein Testosteron mehr bilden. Aber ich bin sicher, dass es auch Frauen, die Libido-Probleme haben, verschrieben werden wird.

Clayton: Selbst Frauen vor den Wechseljahren können von zusätzlichem Testosteron profitieren. Es gibt sehr viele Frauen, die darunter leiden, dass sie weniger Sex haben als früher. Intrinsa hat in den USA aber keine Zulassung erhalten, weil die FDA wegen der Langzeitwirkung besorgt ist. Weitere Hormonbehandlungen werden klinisch getestet, in spätestens fünf Jahren sollte etwas auf dem Markt sein.

STANDARD: Handelt die US-Zulassungsbehörde nicht aus berechtigter Sorge?

Clayton: Die FDA misst nicht, ob und wie oft Frauen Sex möchten, sondern zählt nur die befriedigenden Sexakte. Das ist eine männliche Perspektive. Wir haben einen Fragebogen für sexuelles Verlangen von Frauen entwickelt. Der Fragebogen ist validiert und hat sich bei Ärzten und Patientinnen bewährt, aber die FDA akzeptiert ihn nicht.

STANDARD: Erektionsstörungen können durch Medikamente verursacht werden. Gibt es auch bei Frauen sexuelle Störungen aufgrund anderer Behandlungen?

Clayton: In meiner Praxis ist das sogar ziemlich häufig, weil ich Psychiaterin bin. Wir sehen viele Patientinnen, die wegen Depressionen, Psychosen oder Diabetes behandelt werden. Auch Medikamente gegen chronische Kopfschmerzen können Lustlosigkeit hervorrufen.

STANDARD:Stehen solche Nebenwirkungen auf das Sexualleben auf den Beipackzetteln?

Clayton: Es gibt hunderte Medikamente, die das Sexualleben beeinträchtigen, aber nur bei wenigen werden die Patienten darüber informiert. In den USA tauchen auf dem Beipackzettel nur Nebenwirkungen auf, die in den klinischen Studien berichtet wurden. Das heißt, die Studienteilnehmer müssen die Nebenwirkungen zur Sprache bringen. Nur wenige sprechen aber sexuelle Störungen von selbst an. Viele stellen den Zusammenhang mit dem Medikament nicht her, besonders Frauen nicht.

Bragagna: Beeinträchtigungen des Sexuallebens sind neben Gewichtszunahme der häufigste Grund, warum Patienten ihre Medikamente absetzen.

STANDARD: Müssen Patienten nicht über mögliche Nebenwirkungen auf ihr Sexualleben aufgeklärt werden?

Bragagna: Natürlich, aber dafür braucht man Daten, und die fehlen besonders für Frauen. Viele der heute zugelassenen Medikamente sind nur an Männern getestet worden.

Clayton: Männer sind eher bereit, sexuelle Beeinträchtigungen zu berichten. So bin ich überhaupt zur Sexualmedizin gekommen: Ich war Psychiaterin bei der U.S. Navy und erfuhr, dass viele Männer, die Antidepressiva nahmen, Orgasmusprobleme haben. Laut Literatur sollte das nur bei 1,9 Prozent der Männer auftreten. In meiner Praxis waren es mindestens 20 Prozent.

STANDARD: Ihre Website, Frau Bragagna, ist von den Herstellern der drei zugelassenen PDE5-Hemmer gesponsort.

Bragagna: Ich investiere kein eigenes Geld, um die Leute zu informieren. Mit dem Geld werden die Webmaster der Website finanziert.

STANDARD: Haben Sie sonst Beziehungen zu Pharmafirmen?

Bragagna: Ich mache Fortbildungen für Ärzte.

STANDARD: Schürt das nicht den Griff zu Medikamenten?

Bragagna: Die Katastrophe ist, dass das Gesundheitssystem nur ein paar Minuten für Gespräche mit dem Arzt vorsieht. Das ist schlecht und fördert die schnelle Lösung. Und das sind Medikamente.

STANDARD: Beeinflusst Sie die Pharmaindustrie, Frau Clayton?

Clayton: Ich hoffe, es läuft umgekehrt so, dass ich Firmen beeinflussen kann. In den USA haben wir eine sehr prüde Regierung. Gerade für Sexualmedizin gibt es fast keine staatlichen Forschungsmittel mehr.

STANDARD: Wie ging es der Sexualmedizin vor Viagra?

Clayton: Die Forschung war auf den Penis und auf operative Eingriffe zur Behandlung von Impotenz fixiert. Da greifen Medikamente doch erheblich weniger ein. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26.3.2007)