"Jede Normierung ist eine Vergewaltigung. Ich werde immer unwilliger, solche Kategorisierungen hinzunehmen" - Anna Mitgutsch. Am morgigen Samstag liest sie in Röthis aus ihrem jüngsten Roman "Zwei Leben und ein Tag".
Foto: Der Standard/Peter von Felbert
In Linz sprach sie mit Cornelia Niedermeier.

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Wien - "Er ist ein fremder Riese auf der Durchreise" schreibt die Protagonistin Edith in Anna Mitgutschs jüngstem Roman Zwei Leben und ein Tag über den Hudson River. In niemals abgeschickten Briefen an ihren abwesenden Mann Leonard, mit dem sie auch nach der Scheidung, nach dem Erlöschen des Begehrens, eine lebenslange Beziehung verbindet, lässt sie das gemeinsame Leben Revue passieren.

Die berufsbedingten Ortswechsel und Krisen, die Sorge um den gemeinsamen Sohn Gabriel, dessen ungewöhnliches Verhalten seit einer Fieber-Infektion in der Kindheit bei der Umgebung auf schroffe Ablehnung stößt: Ihren Erinnerungen fügt sie lange Passagen bei aus dem Leben Herman Melvilles, des Autors von Moby Dick, dessen Figuren Leonard und sie ein Leben lang begleiteten und der in seinem Handeln und Schreiben ähnlichem Unverständnis begegnete.

Fremde Riesen auf Durchreise, wie der Hudson, wie Melvilles Figuren bleiben sie alle in Anna Mitgutschs großem, vielschichtigem Roman (siehe auch Rezension im ALBUM vom 3. 2.): Edith, Leonard, Gabriel und Melville, wo Lebensentwürfe jenseits der ausformulierten Normen niemand zu verstehen bereit ist.

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DER STANDARD: Eines Ihrer früheren Bücher heißt "Ausgrenzung". Dort thematisieren Sie die Ausgrenzung, die einer Mutter und ihrem Kind wiederfährt, deren Verhalten auf Unverständnis stößt. Eine Ausgrenzung, die nun auch die Figuren in "Zwei Leben und ein Tag" in der Rezeption erfahren.
Mitgutsch: Unsere Gesellschaft hat so extrem starre Normen. Etwa auch, was Beziehungen betrifft. Sie geht von einer Sicht aus, in der Beziehungen nur funktionieren, solange sich zwei Menschen jeden Abend gemeinsam in ein Doppelbett legen. Das ist auch in der Rezeption meines Textes spürbar: Die Beziehung von Edith und Leonard wird als "gescheitert" bezeichnet. In dem Vokabular der Norm, dem Beziehungskisten-Vokabular. Dass eine Beziehung eine Beziehung bleiben kann, weil eine innere Verbindung da ist, wird übersehen.
Und was heißt scheitern? Wenn das, was für alle anderen das Einzige ist, mir nicht entspricht, warum scheitere ich dann? Dann verwerfe ich es ja. Dann scheitert das, was mich nicht toleriert, an mir.

DER STANDARD: Die sprachliche Festschreibung als Außenseiter kommt einer Stigmatisierung gleich, die sowohl Gabriel als auch Melville zu seiner Zeit erfährt.
Migutsch: Für mich ist dieser Gabriel weder "Borderline" noch "Autist", "behindert" oder "psychisch schwer gestört", was auch die Rezensenten diagnostizieren. Er hat eine andere Sicht auf die Welt. Wenn diese Sicht als behindert abgetan wird, als Makulatur, dann wird ihr in der Welt keine Berechtigung zugestanden. Dann wird sie sofort klinisch entsorgt als irrelevant. Wer psychisch krank ist, hat ja nichts zu sagen zur Realität. Der kann nichts mehr infrage stellen. Denn er ist ja selbst die Abweichung.

DER STANDARD: Wer Diagnosen stellt, wer andere als Außenseiter erkennt, ist selbst gerettet. Aufgehoben im Herz der Norm.
Mitgutsch: Im Wort "Außenseiter" steckt, wie in "Scheitern", wie in der "Toleranz" ein potenzielles Vorurteil. Ein Standort. Es ist unerträglich, sich selbst als Außenseiter zu sehen. Wenn man wirklich erfühlt, was es bedeutet, kann derjenige, der Außenseiter ist, sich nicht selbst als solcher sehen. Denn er ist ja für sich die Norm. Er ist ja nicht die Makulatur. Er ist nicht das Weggeworfene. Er ist ja das Ich. Die anderen sind anders. Manchmal ist die ganze Welt anders. Aber man selbst ist immer "ich". Selbst wenn man schon auf der Deponie liegt, ist man noch immer "ich" und ist die Norm. Und deswegen ist für mich der Begriff Außenseiter nicht mehr erträglich. Denn woher soll ein Außenseiter das Recht ableiten, von sich zu sagen, ich bin richtig und die anderen sind falsch? Ich werde immer unwilliger, solche Kategorisierungen hinzunehmen. Jede Normierung ist eine Vergewaltigung.

DER STANDARD: Warum fiel Melville mit seinen Büchern so vollkommen aus seiner Zeit?
Mitgutsch: Jede Zeit gibt vor, wie Literatur auszusehen hat. Die Form. Und auch die Themen. Der wirkliche Bruch bei Melville war Moby Dick. Er wollte nicht wieder eine Abenteuergeschichte erzählen. Er wollte nicht mehr auf der Oberfläche der Story bleiben. Das ist schon noch da. Aber dahinter wird der Boden unfest. Dahinter greift er etwas an, was damals festzementiert war. Worauf die Religion das Monopol hatte. Dieser Wal wird ja transparent auf etwas Metaphysisches hin. Es gibt Stellen, wo er an ihm und in der Natur das Göttliche erspürt. Aber er suchte aus der Sicht der Zeitgenossen an der falschen Stelle. Dann hieß es "ein schlechtes Buch" und wurde aus angeblich literarischen Gründen verrissen. Aber dahinter ist das Unbehagen.

DER STANDARD: Die letzten dreißig Jahre seines Lebens verstummte er.
Mitgutsch: Seine Zeit ist ihm so fremd geworden, dass er ihr nichts mehr mitteilen wollte. Ich kann mir aber keine Künstler-Biografie anders vorstellen. Das ist wie bei der Assimilation: In dem Maß, in dem man sich anpasst, verrät man sich selbst. Der Fremde wird ja an dem gemessen, was er nicht kann. Er kann Philosoph sein in seiner Sprache. Aber in der neuen Sprache ist er stumm.

Lesungen

Am Freitag, dem 20. April, liest sie in Vorarlberg.
Am Samstag, dem 21. April um 20 Uhr in Röthis, Schlösslesaal, Schlösslestraße 31.
Am 2. Mai in Wien im Rahmen der Gala "Die 100 Lieblingsbücher der Wienerinnen und Wiener" im Rathaus.

Zur Person

Anna Mitgutsch wurde 1948 in Oberösterreich geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik und lehrte an Universitäten in England, Korea und den U.S.A. Ihre Romane erhielten zahlreiche Preise. (DER STANDARD, Printausgabe 20.04.2007)