Gabriele Haselberger, vormals Volksschullehrerin, kam übers Tanzen zur Bewegungsanalyse.
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"Es geht darum, die inneren Landschaften kennen zu lernen" - Gbriele Haselberger ist nach einer vierjährigen Ausbildung mittlerweile seit acht Jahren als Bewegungsanalytikerin tätig, seit Jänner 2007 arbeitetet sie bei intakt , dem Therapiezentrum für Menschen mit Ess-Störungen. Das Gespräch führte Dagmar Buchta.

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dieStandard.at: Sie arbeiten mit Menschen, die an Ess-Störungen erkrankt sind. Welche Formen dieser Krankheit behandeln Sie?
Gabriele Haselberger: Im Prinzip alle.

dieStandard.at: Auch Adipositas? Fettsucht wird ja immer ausgespart bei den Ess-Störungen.
Gabriele Haselberger: Adipositas ist diagnostisch keine Ess-Störung. Da gibt es genaue Kriterien wie Binge-Eating-Disorder. Dazu gehört, dass es Essanfälle sind, die immer wieder auftreten, mit großen Schuldgefühlen, Schamgefühlen, wo aber keine Gegenmaßnahmen wie Erbrechen oder Abführmitteln stattfinden. Die werden natürlich übergewichtig, legen kontinuierlich an Gewicht zu und die Ursachen sind ebenfalls psychisch bedingt, aber es fehlt das Kriterium des Wieder-Loswerden-Müssens.

dieStandard.at: Wie funktioniert die Bewegungsanalyse?
Gabriele Haselberger: Bewegungsanalyse ist eine nonverbale Methode. Es geht wirklich ums Tun und Machen. Konkret schaut das so aus: Die Leute kommen zu mir und ich fordere sie auf, sich zu bewegen. Es geht dabei nicht um spezielle Bewegungen, sondern um Alltagsbewegungen wie liegen, gehen, sitzen. Ich lade sie ein zu schauen, wie ist das für sie, was können sie leicht bewegen, was würden sie gerne tun, aber trauen sich nicht. Das, was da kommt, wird nachher besprochen. Da kommt dann zum Beispiel "gehen ist einfach, weil das ist unverfänglich, da verrate ich mich nicht, da kenne ich mich aus, aber ich würde gerne meine Arme ausstrecken, aber das traue ich mich nicht, das ist zu intim" ... und dann sind wir eigentlich schon beim Thema: was zeige ich her und was behalte ich eher für mich. Warum ist das so schwierig? Und dann kommt oft das Thema der Erwartungen, denn viele machen gar nichts und im Gespräch frage ich dann, was ist da passiert? "Ich weiß nicht, was ich tun soll, was erwarten Sie denn überhaupt von mir?". Dann sag ich "okay, was hätten Sie denn gerne getan?". "Eigentlich hätte ich mich am liebsten hingelegt". "Warum haben Sie sich dann nicht hingelegt?". "Ja, na was könnten Sie denn dann von mir glauben?". Also, wo es um die Erwartungshaltungen geht. Also, was erwarten die anderen von mir, was ja wirklich immer wieder ein Thema bei Ess-Störungen ist. Es geht darum zu zeigen, was ich eigentlich möchte, was ist daran so schrecklich? Wo es darum geht, dass der Impuls, den ich hatte, ja auch etwas wert ist, also eigene Impulse wertzuschätzen, zu achten.

dieStandard.at: Wie schaut die Abfolge von nonverbalem Umgang und Analyse im Gespräch aus?
Gabriele Haselberger: Es gibt in den Sitzungen, die fünfzig Minuten dauern, zwei Bewegungseinheiten, die wiederum zwischen 12 und 15 Minuten dauern, und zwei Gesprächseinheiten. In der ersten schaut man einmal, was so da ist. Es ist wichtig, die KlientInnen dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, also einfühlend zu sein, ihnen eine Stütze zu geben.

dieStandard.at: Welches Wissen über die spezielle Art der Ess-Störung der KlientInnen liegt Ihnen vor, wenn sie mit der Therapie beginnen?
Gabriele Haselberger: In unserem Therapiezentrum gibt es zuerst einmal ein Erstdiagnose-Gespräch, wo abgeklärt wird, um welche Ess-Störung es sich handelt. Dann müssen sie zur Medizinerin, dann zur Fachärztin für Neurologie, sie haben dann eine psychologische Diagnostik-Sitzung, dann erst kommen sie zu mir. Und dann geht es in der ersten Sitzung einmal darum, dass sie reden. Erzählen, worum es geht, Abklärung der Familiensituation, wie gehen sie mit Gefühlen um, ist es leicht, Wut zu zeigen, Traurigkeit, Angst, welche Vorstellungen von Beziehung haben sie, natürlich auch über die Ess-Störung, wie oft das vorkommt, in welchen Zusammenhängen. Manche können schon sagen, welche Funktion das hat, z.B. das Kotzen, manche können das nicht.

dieStandard.at: Was meinen Sie, was die Ursachen für Ess-Störungen sind und inwieweit werden diese bereits in der Vordiagnostik angesprochen? Gibt es ganz markante Auslöser?
Gabriele Haselberger: Von den Ursachen her spielen viele Faktoren eine Rolle. Auslöser kann dann oft ein Ereignis sein. Allgemein geht es bei den Ursachen von Ess-Störungen um Grenzüberschreitungen und die müssen nicht immer nur in der Kindheit stattgefunden haben. Es gibt auch KlientInnen, die wesentlich später eine Ess-Störung entwickelt haben z.B. nach der Geburt oder nach den Kindern, in der Midlife-Crisis, die nicht wissen, wie sie mit dem Älterwerden umgehen sollen. Ich habe den Eindruck, dass es darum geht, Möglichkeiten zu finden, mit Veränderungen umzugehen. Veränderungen könnten etwas sein, dass Angst macht.

dieStandard.at: Welches Bewusstsein über die Erkrankung und deren Ursachen liegt bei den KlientInnen vor bzw. gibt es notwendige Voraussetzungen von deren Seite, damit die Therapie erfolgreich ist?
Gabriele Haselberger: Ich habe den Eindruck, dass jene, die das schon lange haben, die beschäftigen sich sehr viel damit. Die informieren sich über Literatur, lesen im Internet, überprüfen, wo sie selbst stehen. Das Sich-bewusst-Werden ist schon gut, aber es geht darum, die Inhalte, die man im Kopf hat, in Haltungen zu verwandeln. Da kann das Bewusste unter Umständen sogar hinderlich sein.

dieStandard.at: Weil Bewusstsein primär eine Kopfgeschichte ist?
Gabriele Haselberger: Ja, es geht wirklich um das Umsetzen in Gelebtes, innere Haltungen zu verändern, die inneren Landschaften kennen zu lernen, Bedürfnisse, Emotionen. Dafür mehr Sensibilität zu entwickeln.

dieStandard.at: Kommen viele Mädchen und Frauen zu Ihnen, die bereits eine psychoanalytische Gesprächstherapie hinter sich haben, damit jedoch nicht weiter gekommen sind?
Gabriele Haselberger: Auch. Natürlich ist das Gespräch etwas, wo sich viele gut auskennen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen mit Ess-Störungen sich im Gespräch gut verstecken können, sich Ausreden suchen etc. Bei der Bewegungsanalyse geht das nicht. Die Frauen sind sehr auf sich geworfen, indem sie mit Gefühlen in Kontakt kommen, die sie nicht spüren wollen, mit ihrer Wut, ihrer Traurigkeit, ihrer Unsicherheit. Die Körpertherapie ist halt ein anderer Zugang. Dadurch, dass sie über den Körper geht, ist das sehr direkt.

dieStandard.at: Wie empfinden die KlientInnen die Therapie?
Gabriele Haselberger: Ich habe eine Klientin, eine junge Frau mit Magersucht, die erlebt die Bewegungsanalyse als sehr angenehm, weil es da nicht dauernd ums Essen geht. Sie hat das Gefühl, da kann sie sich beschäftigen, da ist niemand, der sagt: "iss doch was", da hat sie einen Raum, wo sie sie selbst sein kann und die Bewegungen etwas relativ Neutrales sind. Wo sie selber ausprobieren kann, was mache ich eigentlich gern. Welche Teile ihres Körpers bewegt sie gern und wie bewegt sie sich gern. Hat sie es gerne nahe am Körper oder hat sie es gerne weiter weg.

dieStandard.at: Es geht also darum, einen Raum für sich zu haben, der jenseits vom Essen bzw. Nichtessen ist?
Gabriele Haselberger: Genau. Oder zum Beispiel eine Klientin, die Bulimie hat, die meint, es ist eine Möglichkeit, zu sich zu kommen und zur Ruhe zu kommen. Ohne dass sie irgendwo entsprechen muss.

dieStandard.at: Können Ess-Störungen zur Gänze geheilt werden oder geht es darum, eine gewisse psychische und physiologische Stabilität zu erreichen?
Gabriele Haselberger: Meiner Meinung nach können sie geheilt werden, wobei es von der Art der Ess-Störung abhängt, wie lange der Prozess bis zur Heilung dauert. Bei Magersucht ist es wahrscheinlich am zähesten. Und je länger die Erkrankung bereits vorliegt, umso schwieriger. Bei Bulimie ist es anders, weil der Leidensdruck schneller da ist. Die körperlichen Schmerzsymptome schneller auftreten wie Probleme mit Speiseröhre, Magen, Zähnen etc...

dieStandard.at: Wie alt sind die Mädchen und Frauen im Durchschnitt, wenn sie zu Ihnen kommen?
Gabriele Haselberger: Die meisten sind zwischen achtzehn und fünfunddreißig, vereinzelt kommen auch ältere, Vierzigjährige, manchmal auch Sechzigjährige.

dieStandard.at: Wie oft finden die Sitzungen statt und wie lange dauert die Therapie im Durchschnitt? Gabriele Haselberger: Wöchentlich und man kann sagen, im Schnitt zwei Jahre.