Zur Person:

Bettina Weidinger ist seit 11 Jahren als Sozialarbeiterin und Sexualberaterin u.a. beim Jugendonline-Portal rbx.at tätig. Gemeinsam mit Wolfgang Kostenwein leitet sie das Institut für Sexualpädagogik.

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Bettina Weidinger kennt die sexuellen Welten Jugendlicher von einer Seite, wie sie normalerweise kaum einer Erwachsenen offenstehen. In Schulen, Seminaren und auch in der "SexBox" auf der Jugendwebsite rbx.at berät die diplomierte Sozialarbeiterin seit vielen Jahren Jugendliche zu Sexualität und Verhütung. Über 2800 Mails beantwortet sie und ihre Kollege bei der "SexBox" in einem Jahr, Drei-Viertel aller Anfragen stammen dabei von Mädchen. Aus einer Studie des Instituts für Sexualpädagogik geht hervor, dass die meisten Jugendlichen (86 Prozent) regelmäßig verhüten, wobei dies - mit Ausnahme des ersten Mals - hauptsächlich mit der Pille geschieht. Im Gespräch mit die Standard.at erklärt Bettina Weidinger, wie wichtig es ist, junge Mädchen bezüglich Aufklärung dort abzuholen, wo sie gerade persönlich stehen.

dieStandard.at: Sie sind als Sexualpädagogin in Schulen und diversen Beratungseinrichtungen tätig. Welche Fragen haben junge Menschen heute noch bezüglich Verhütung?

Bettina Weidinger: Die Fragen kommen fast immer von Mädchen, das lässt sich sicher sagen. Hierbei geht es dann meistens um Anwendungsfragen, hauptsächlich bei der Pille. Viele Mädchen kommen zu uns, weil sie das Gefühl haben, dass sie sich nicht an die Praxis, die ihnen die Pille verschrieben hat, wenden können.

Zweites großes Thema ist sicher die Pille danach. Hier herrscht allgemein eine große Unsicherheit, wie sie eingenommen wird, woher man sie bekommt, etc. Gerade bei der Pille danach zeigt sich, dass das Thema viel zu hochschwellig diskutiert wird, Mädchen glauben deshalb oft, dass sie an dieses Medikament gar nicht ran kommen oder auch, dass es halb kriminell ist, wenn sie sie nehmen.

Wir haben auch noch zahlreiche Anfragen darüber, wie der Zyklus eigentlich funktioniert. Der Umkehrschluss wäre aber falsch, dass sich junge Frauen nicht für ihren Körper interessieren. Woran es mangelt sind praktikable, im Sinne von merkbaren Antworten von Seiten der ÄrztInnen, Schulen, dem Zuhause und den Medien.

dieStandard.at: Eine Studie ihres eigenen Instituts hat bestätigt, dass die Mehrheit der Mädchen zur Pille greift. Wie erklären Sie sich diese ungebremste Euphorie bezüglich eines Verhütungsmittels, das ja doch auch beträchtliche gesundheitliche Risiken mit sich bringt?

Bettina Weidinger: Ganz einfach: Die Pille befriedigt das Bedürfnis der Kontrolle bei den Mädchen. Sie haben die Verhütung in der Hand, sie müssen sich auf niemand anderen verlassen. Es ist bei den Mädchen angekommen: Letztendlich bin ich betroffen! Für 16-Jährige passt die Pille auch ins Beziehungsverhalten. Sie haben einen Freund, vielleicht ein halbes Jahr, und denken sich: Die Pille nehme ich für diese Beziehung! Das Verhütungsmittel ist hier sehr stark emotional aufgeladen.

Es ist allerdings problematisch, dass Mädchen oft nicht mehr so klar ist, dass es sich bei der Pille um ein Medikament handelt. Der Verhütungsaspekt sollte außerdem ganz klar im Vordergrund stehen, wenn ein Mädchen die Pille nimmt.

dieStandard.at: Sehen Sie Defizite bei der Aufklärung über die Pille in Österreich?

Bettina Weidinger: Letztendlich wissen wir Beraterinnen nur, dass Frauen immer wieder ein Wissensdefizit in puncto Pille und Co haben. Es wäre aber falsch zu behaupten, die ÄrztInnen seien daran schuld, auch wenn es praktisch ist, wenn man eine/n Schuldige/n hat.

Was die Informationen anbelangt, so glaube ich, dass sie sehr wohl gegeben werden, aber nicht ankommen, weil sie etwa zu langatmig vorgetragen werden, weil sie den Lebenskontext der (jungen) Frau nicht berücksichtigen, weil sie mit zu vielen Fachwörtern geschmückt sind und weil sie zum Teil von einem Basiswissen (z.B. über den Zyklus) ausgehen, das möglicherweise nicht vorhanden ist.

Meinem Eindruck nach geht es nicht darum aufzufordern, dass Frauen über die Pille und andere Methoden eingehend aufgeklärt werden, sondern dass sich die Art und Weise, wie erklärt wird an der Patientin, ihren Lebensumständen und vor allem an ihrem Informationsbedürfnis orientiert.

dieStandard.at: Die Pille ist seit Jahren ein frauengesundheitspolitisches Streitthema. Wie ordnen Sie sich der Debatte zu?

Bettina Weidinger: Was ich kritisiere, ist die Schwarz/Weiß-Diskussion über die Pille, wie sie zumeist in den Medien geschieht. Bei Mädchen lösen Horrormeldungen über die gesundheitlichen Nebenwirkungen der Pille starke Verunsicherung aus, die zum Teil auch zu Kurzschlusshandlungen führen können.

Ich bin gegen die politische Vereinnahmung von Mädchen auf beiden Seiten. Es gibt den Druck, als 'unemanzipiert' zu gelten, wenn ein Mädchen die Pille nimmt. Genauso lehne ich aber die Verunglimpfung von Frauen, die natürliche Empfängnisverhütung anwenden, ab. Es sind Extreme, die Mädchen in der Frage, welches Verhütungsmittel für sie im Moment das Richtige ist, nicht weiterhelfen.

Die Frage der Verhütung ist jedenfalls keine, die einmal im Leben einer Frau getroffen wird. Schließlich ist sie einen sehr langen Zeitraum ihres Lebens fruchtbar, da ist es klar, dass sich die Rahmenbedingungen immer wieder ändern.

dieStandard.at:Welche Einflüsse hat die Pille auf die Entwicklung der sexuellen Identität von Mädchen?

Bettina Weidinger: Das alte feministische Argument lautet ja, dass die Pille Frauen sexuell immer verfügbar gemacht hat. Das stimmt heute nicht mehr so: Mädchen misstrauen der Pille und verhüten zum Teil doppelt, weil sie Schwangerschaften, aber auch sexuell übertragbare Krankheiten fürchten. Trotzdem gibt es natürlich einen ungemeinen Druck auf Mädchen und auch Jungen, sexuell aktiv zu sein, aber der kommt nicht von der Pille, sondern ganz stark über die Medien. Beiträge wie 'Das 10-Punkte-System zum Orgasmus' können einen enormen Leistungsdruck bei Mädchen auslösen. Das größte Tabu in unserer heutigen Gesellschaft ist ja, keinen Sex zu haben.

Meine Aufgabe als Sexualtherapeutin sehe ich darin, Mädchen darin zu begleiten, herauszufinden, was sie wollen. Erwachsene dürfen nicht den Fehler machen, den Jungen ihre sexuelle Kompetenz wegzunehmen, indem sie ihnen vermitteln: 'Ich weiß, was du brauchst'.

Verhütung ist nicht etwas, das antrainiert werden kann. Es ist deshalb nicht unbedingt mehr 'Aufklärung' notwendig, die ich gerne auch als Pseudo-Aufgeklärtheit in unserer Gesellschaft bezeichne. Verhütung ist nicht mehr und nicht weniger als ein Mosaikstein in der Entwicklung der sexuellen Identität.

dieStandard.at: Die Pille schützt nicht vor Geschlechtskrankheiten und nicht vor einer HIV-Infizierung. Wie präsent ist Jugendlichen die Gefahr einer Ansteckung?

Bettina Weidinger: Die meisten Jugendlichen wissen genau bescheid. Allerdings fehlt es ihnen an einer realistischen Risikoeinschätzung, d.h. sie schätzen das Ansteckungsrisiko falsch und jedenfalls zu hoch ein. Das ist aber auch gefährlich, weil es dazu führen kann, dass Menschen emotional aussteigen und sich gar nicht mehr um Schutz kümmern. Auch die Risikoeinschätzung ist etwas, das jede Person individuell lernen muss. (Ina Freudenschuß, die Standard.at, 14.08.2007)