Biografie der Bertha Pappenheim, geschrieben von Marianne Brentzel

Foto: wallstein verlag

Der "Fall Anna O." ist in die Medizingeschichte eingegangen. Unter diesem Titel veröffentlichten die Psychoanalytiker Josef Breuer und Sigmund Freud 1895 in ihren "Studien zur Hysterie" die Krankheitsgeschichte der österreichischen Frauenrechtlerin und Sozialreformerin Bertha Pappenheim. Zugleich ist es der Krankheitsfall einer Frau, welcher Freud zur Begründung seiner Psychoanalyse angeregt hat. Ein Porträt von Dagmar Buchta.

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Bis 1953 war die Identität der Anna O. mit der jüdischen Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin Bertha Pappenheim unbekannt geblieben. Eine Identität, die Bertha selbst nie preisgegeben hat. Als der Psychoanalytiker Ernest Jones in einer Fußnote seiner Freud-Biografie das Pseudonym anführte, reagierten Freundinnen und Mitarbeiterinnen von Pappenheim schockiert. Erste Versuche wurden unternommen, das Lebenswerk der vielseitig interessierten und tätigen Frau zu würdigen, u. a., um die reduzierte Bekanntheit auf einen psychoanalytisch interessanten "Hysterie-Fall" auszugleichen. 1963 erschien Dora Edingers Band "Bertha Pappenheim - Leben und Schriften", der sogleich vergriffen war.

Eine großartige Frau - reduziert auf einen "Hysterie-Fall"

Obwohl es heute eine Flut an Literatur zu Bertha Pappenheim gibt, beschränkt sich der Großteil auf den Bericht der zwei Jahre ihrer Krankheit und Behandlung durch Josef Breuer, die übrigen 75 Jahre ihres Lebens bleiben bedeckt. Liegt es an den scheinbar widersprüchlichen Facetten ihres Lebens, die eine biografische Darstellung verkomplizieren oder daran, dass eine Menge an Material in der Nazizeit zerstört worden ist so wie viele Freundinnen von Bertha in KZ's ermordet worden sind, so dass es an Zeitzeuginnen mangelte, wie die Biografin Marianne Brentzel in ihrem überaus genauen und großartigen Buch "Anna O. Bertha Pappenheim" mutmaßt?

Faktum ist: Bertha Pappenheim war eine starke Persönlichkeit, die gegen Mädchenhandel und -händler kämpfte und sich für die Rechte der Frauen engagierte. Beliebt war sie daher von weiten Kreisen der Gesellschaft sicher nicht. Und das wusste sie. In einem Nachruf über sich selbst schrieb sie: "Sie war eine Frau, die jahrzehntelang eigensinnig für ihre Ideen eingetreten ist, Ideen, die in der Zeit lagen. Aber sie tat es oft in Formen und auf Wegen, die einer Entwicklung vorgreifen wollten, so wie sie auch nicht nach jedermanns Sinn und Geschmack waren. Schade!" (zit. in Brentzel, S. 7)

"Typische Frauen-Krankheit" des 19. Jahrhunderts

Geboren am 27. Februar 1859 in Wien als Tochter von Recha und Siegmund Pappenheim, wuchs Bertha in einer wohlhabenden jüdischen Wiener Familie auf. Ihre ersten Jahre waren vom typischen Leben einer höheren Tochter geprägt: Stickarbeiten, Klavierspielen, Sprachen lernen, Haushaltsführung. Als ihr Vater 1880 an Tuberkulose erkrankte, übernahmen Mutter und Tochter seine Pflege. Bertha, 21 Jahre alt, machte die Nachtschicht. In einer solchen Nacht stellten sich erstmals Lähmungserscheinungen und Halluzinationen ein, die der Bertha behandelnde Arzt Josef Breuer später als "hysterische Symptome" deutete. Ihr Zustand verschlechterte sich nach und nach, Seh- und Sprachstörungen (phasenweise sprach Bertha nur Englisch und war der deutschen Sprache nicht mächtig) kamen hinzu. Ein zweijähriges Martyrium mit etlichen Selbstmordversuchen und Sanatorium-Aufenthalten folgte.

Ob Bertha "geheilt" wurde, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Ihre Biografin meint, dass der "glückliche Ausgang der Erkrankung ... unmittelbar nach Beendigung der Behandlung, den Breuers Bericht von 1895 vorspiegelt, ... keinesfalls der Wahrheit" entspricht. (Brentzel, S. 51) Wie sehr die "hysterischen Symptome" mit der nächtelangen Betreuung des Vaters und der isolierten Situation von bürgerlichen Frauen und Mädchen dieser Zeit, wie Bertha eine war - Hysterie wurde zur bourgeoisen Frauenkrankheit ersten Ranges erhoben - korrelieren, darüber kann nur gemutmaßt werden. Fest steht jedoch, dass Bertha Pappenheim in ihren späteren Jahren die Methoden der Psychoanalyse - beispielsweise zur Behandlung ihrer Waisenhaus-Kinder - auf das Heftigste abgewehrt hat.

Im Jahr 1888, nach dem Tod des Vaters, verließen Mutter und Tochter Pappenheim Wien, um nach Frankfurt zu gehen, wo sie bei der Familie der Mutter aufgenommen wurden. Bertha beteiligte sich an der Fürsorgearbeit ihrer Tanten und Kusinen und begann zu schreiben. Noch 1888 erschien anonym der Band "Kleine Geschichten für Kinder", 1890 unter dem Pseudonym P. Berthold "In der Trödelbude" und 1902 die Novelle "Ein Schwächling".

Übersetzerin von Mary Wollstonecraft

In dieser Zeit eignete sie sich autodidaktisch eine umfassende Bildung an und über die von der deutschen Frauenrechtlerin Helene Lange gegründeten Zeitschrift "Die Frau" kam sie mit den Anliegen und Zielen der Frauenbewegung in Berührung. Durch Zufall stieß sie auf den berühmten Text von Mary Wollstonecraft "Vindication of rights of woman" (Verteidigung der Rechte der Frau, 1792), der, wie sie verblüfft feststellte, nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. So ging sie selbst ans Werk und 1899 wurde der Text publiziert.

Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution

Mehr und mehr beschäftigte sich Bertha Pappenheim mit den Zusammenhängen des sozialen Elends und der Fürsorgearbeit. Sie erkannte, dass herkömmliche Formen der Wohltätigkeit nicht wirklich etwas verändern konnten, solange die Wurzeln unangetastet blieben. Ab etwa 1895 arbeitete sie im Israelitischen Frauenverein, der sich der Erziehung und Ausbildung jüdischer Waisenkinder annahm. Zwei Jahre später übernahm sie die Leitung des Mädchenwaisenhauses und dreißig Mädchen in ihre Obhut. In den zwanziger Jahren setzte sie sich vermehrt mit dem Problem des Mädchenhandels und der Prostitution jüdischer Frauen auseinander. Sie hielt Vorträge, organisierte Konferenzen und unternahm Studienreisen u.a. nach Palästina und Osteuropa; die Ergebnisse ihrer Erhebungen veröffentlichte sie 1930 in dem vielbeachteten Band "Sisyphus-Arbeit". Für ihren Kampf gegen das Verbrechen des Mädchenhandels wurde die deutsche Frauenbewegung auf sie aufmerksam, welche in Zeitschriften lobend berichtete. Aber auch Anfeindungen besonders innerhalb des Judentums war sie ausgesetzt, da sie das Tabu - Juden hätten mit Prostitution nichts zu tun - verletzt hatte.

Auslöschung ihres Werkes durch die Nazis

1904 gründete Bertha Pappenheim den "Jüdischen Frauenbund", um die Arbeit der zersplitterten Israelitischen Frauenvereine effektiver zu machen. Ihr größter Wunsch, den traumatisierten "gefallenen Mädchen" eine Heimat zu bieten, konnte 1907 mit der Eröffnung eines Heimes in Neu-Isenburg realisiert werden. In den Progromen um den 9. November 1938 wurde das Heim niedergebrannt und die fünfzehn Jüdinnen gemeinsam mit vier Mitarbeiterinnen in Auschwitz ermordet. Bertha Pappenheim hatte die Ermordung ihrer Schützlinge und Freundinnen sowie die Zerstörung ihres Lebenswerkes glücklicherweise nicht mehr erleben müssen. Sie starb am 28. Mai 1936 in Neu-Isenburg.