ModeratorIn: Wie begrüßen unsere Expertin Rahel Jahoda im dieStandard.at-Chat und freuen uns auf zahlreiche Fragen!

Rahel Jahoda : Ich freue mich auf viele Fragen und hoffe sie gut beantworten zu können.

jänner: Gibt es bei magersucht unterschiede im krankheitsbild zwischen männern und frauen?

Rahel Jahoda : Soweit mir bekannt und aus der Literatur auch bekannt ist, gibt es keine Unterschiede, wobei es nach wie vor so ist, dass mehr Frauen als Männer betroffen sind und für Männer die Hemmschwelle Hilfe anzunehmen größer ist. Sehr oft ist es bei Männern schon so, dass Magersucht mit Sport gekoppelt ist.

jänner: Was halten sie davon, „Magermodells“ von den Laufstegen zu verbannen? Hilft das den frauen?

Rahel Jahoda : Ich denke, dass z.B. diese Kampagne von Olivier Toscani mit dem Magermodell eine gute Möglichkeit darstellt aufzurütteln und die Diskussion um eben diese Magermodels voranzutreiben. Prinzipiell denke ich, dass diese Models uns unerreichbare Schönheitsideale vorleben, die die Magersucht und andere Essstörungen begünstigen. Ich denke, dass ein gewisser BMI gut wäre, aber es ist nicht Allheilmittel.

Userfrage per Mail: kann der Anstieg von Essstörungen empirisch gemessen werden, oder ist nur die gesellschaftliche Aufmerksamkeit dafür gewachsen?

Rahel Jahoda : Ich arbeite seit 16 Jahren mit Essstörungen, damals wurde eine Ziffer 200 000 ÖsterreicherInnen als Betroffene genannt, diese Ziffer hält sich hartnäckig und es ist sehr schwierig empirisch zu überprüfen, da Essstörungen oft im Verborgenen gelebt werden, mit viel Scham und Schuldgefühlen verknüpft sind und eigentlich nur durch Spitalsaufenthalte oder Fragebögen in Schulklassen,... erfasst werden können.

Interista81: Wenn Sie schätzen müssten, wie würden Sie die prozentuale Verteilung von betroffenen Männern und Frauen in Sachen Magersucht einschätzen?

Rahel Jahoda : In der Literatur werden ca. 3-5% betroffene Männer genannt, wie schon vorher erwähnt ist die Dunkelziffer sicher um einiges höher.

Userfrage per Mail: "Inge": Ich habe den Eindruck, dass in so genannten zivilisierten Gesellschaften mehr und mehr Extreme aufscheinen, also immer mehr richtig Dicke und zunehmend dünne Menschen, dazwischen scheint eine Kluft zu sein, also Normalgewichtige immer selte

Rahel Jahoda : Ich denke, dass Essen sehr wohl mit unserer gesellschaftlichen Struktur zu tun hat. In Ländern der so genannten 3. Welt treten Essstörungen so gut wie nie auf, es gab aber z.B. auf den Fidschi Inseln nach Einführung des Fernsehens ein erstmaliges Auftreten von Bulimie, da erstmals westliche Schönheitsideale so transportiert wurden. Essen ist bei uns mit gesellschaftlichem Kontext verbunden, z.B. Arbeitsessen, Familientisch, und Nahrung ist bei uns ständig verfügbar und wird schon in der Kindheit sehr oft einerseits als Trost andererseits als Strafe (Essensentzug) angewandt. Ein Gefühl von Hungersattheit ist sehr oft verlernt.

brüllendes honigfass: wo beginnt die magersucht, wo endet der diätwahn? diese grenze zu erkennen, wäre ja zb für eltern sehr wichtig, die mit eventuell essgestörten kindern zu tun haben.

Rahel Jahoda : Diäten sind sehr oft leider ein Einstieg in eine Essstörung. Ich denke es sollte z.B. bei übergewichtigen Kindern nicht Diäten angeboten werden, sondern Ernährungsumstellungen und Möglichkeiten der Bewegung besprochen werden. Als Elternteil, der denkt mein Kind ist betroffen, würde ich mein Kind ansprechen - aber nicht in Form von Vorwürfen, sondern in formulierter Besorgnis.

juzika2: gibt es essstörungen, die einfach nicht geheilt werden können? zB weil die krankheit chronisch oder genetisch bedingt ist oder der/die patient(in) "therapieresistent" ist?

Rahel Jahoda : Es wäre gelogen wenn wir sagen, dass jede Essstörung geheilt wird. Es ist allerdings auch die Frage, was bedeutet Heilung für jede/n Einzelnen.

Sabine Lechner1: ich war jahrelang magersüchtig. jedoch hatte ich bei einer größe von 1.72 nie weniger als 47 kilo. heute, ein paar jahre später habe ich plötzlich sehr viele allergien bekommen (fructoseunverträglichkeit, laktose usw.). kann das von der jahrelangen

Rahel Jahoda : Durch die Magersucht können natürlich irreversible Schäden am Körper auftreten. Ich würde empfehlen sich bei einer ÄrztIn, die mit Essstörungen vertraut ist, einer Behandlung zu unterziehen. Diese kann Fragen medizinischer Art am besten dann mit Ihnen beantworten und eine Möglichkeit für Sie finden gut mit Ihren Allergien umzugehen.

juzika2: inwieweit kann man essstörungen mit medikamenten behandeln?

Rahel Jahoda : Prinzipiell ist Psychotherapie das Mittel der Wahl. Es können jedoch auch gewisse Psychopharmaka in Kombination mit Psychotherapie eine Hilfe bringen.

Ben Baker: Grüß Gott, Frau Jahoda, ich habe ein Frage zum Ausstieg aus Essstörungen, im konkreten Fall aus der Bulimie: eine Bekannte litt nach eigene Angaben über 8 Jahre an Bulimie und hat zwei Therapien erfolglos abgebrochen. Seit nunmehr 6 Jahren ist sie d

Rahel Jahoda : Ich glaube schon, dass man selber den Ausstieg aus einer Essstörung schaffen kann, man kann es sich jedoch erleichtern durch Hilfe von Außen. Prinzipiell kann man sagen, dass Rückfälle immer möglich sind, jedoch die ehemals Betroffenen dann oft auch schneller reagieren können und leichter den Ausstieg schaffen können.

Rafaela: im kindergarten meiner tochter gibt es eine mutter, die offenbar magersüchtig ist - was sie auch einer bekannten gegenüber zugegeben hat. ihrem kind gibt sie am spielplatz permanent süßigkeiten, limonaden usw, die fünfjährige ist mittlerweile ein we

Rahel Jahoda : Das ist kein typisches Zeichen. Es gibt durchaus sowohl Mütter als auch deren Kinder mit Magersucht bei uns im Therapiezentrum Intakt. Das ist überhaupt im Moment eine spannende neue Situation, da Essstörungen eine relativ junge Krankheit ist und jetzt erstmals 2 Generationen betroffen sind.

Sebastian86: Wie kann man Essstörungen bei Freunden/Kindern frühzeitig erkennen?

Rahel Jahoda : Ständiges gedankliches kreisen ums Essen - es hängt davon ab welche Essstörung es ist - z.B. bei der Magersucht sagen die Kinder sie haben schon gegessen bei Freunden, am Schulweg.... andererseits kochen sie sehr gerne für die gesamte Familie, sie kleiden sich im Zwiebellook um ihren Körper zu verbergen - bei der Bulimie könnten eventuell große Mengen an Nahrungsmittel verschwinden, oder sie beobachten, dass das Kind sofort nach dem Essen den Tisch verlässt und die Toilette aufsucht - und bei Binge Eating Disorder ist das Aufnehmen großer Mengen an Nahrungsmittel ein Warnsignal.

slow motion: Welche Zusammenhänge von Essstörungen zu anderen Phänomenen (Selbstverletzung, Minderwertigkeitskomplexe, ...) sehen Sie ?

Rahel Jahoda : Essstörungen hängen meistens mit minderen Selbstwertgefühl zusammen. Selbstverletzungen kommen immer wieder vor, sie dienen einerseits dazu Spannungszustände auszuhalten, andererseits ist es eine Möglichkeit sich selbst zu spüren.

frottee !: Betroffene von essstörungen tun sich seit geraumer zeit in „pro-ana“-plattformen zusammen, um essstörungen als eine art lebensstil zu zelebrieren und sich gegen den Vorwurf einer Krankheit zu wehren. Wie sehen Sie diese „Selbstbehauptung“ von Betrof

Rahel Jahoda : Ich denke sie lügen sich in den Sack. Essstörungen sind kein Lebensstil, sie sind eine schwere Krankheit die z.B. bei der Magersucht bei ca. 30% der Betroffenen zum Tod führt.

Sabine Lechner1: welche schäden können duch jahrelange magersucht (bei welcher man über einen langen zeitraum nie mehr als 500Kal zu sich genommen hat) eigentlich entstehen?

Rahel Jahoda : Haarausfall, Osteoporose, Schäden am Herz-Kreislaufsystem, Möglichkeit eines eingeschränkten Wachstums,...

Rafaela: zu mütter/kindern mit magersucht? wie alt sind da die kinder? im jugendlichen alter? oder jünger?

Rahel Jahoda : Was wir beobachten, werden die Betroffenen immer jünger. Es gibt immer wieder Anfragen an Intakt auch von Kindergärten wo dieses Thema schon auftritt, dass ein gewisses Schönheitsideal erfüllt werden muss. Kinder die Therapie in Anspruch nehmen sind durchaus 9-10-jährige schon.

slow motion: Überweigen Ihrer Meinung nach eher gesellschaftliche Faktoren (Schlanksheitsideal) oder z.B. familiäre Faktoren in der Entstehung von Essstörungen ?

Rahel Jahoda : Sowohl als auch. Die Ursachen von Essstörungen sind vielschichtig. Ich unterscheide zwischen Ursache und Auslöser. Auslöser sind sehr oft Schönheitsideale und damit verbundene Äußerungen. Ursachen sind wesentlich komplexer und vielschichtiger, das kann sein: familiäre Faktoren, soziale Umstände. Es werden auch genetische Faktoren diskutiert, Grenzüberschreitungen.

slow motion: Was soll man tun, wenn man den Verdacht hat, ein Bekannter/eine Bekannte habe Essstörungen ? Direkt ansprechen, vorsichtig ansprechen oder beobachten, um sicherer sein zu können und mehr Fakten zu sammeln ?

Rahel Jahoda : Direkt ansprechen in liebevoller Weise, vor allem die eigene Betroffenheit zum Ausdruck bringen.

blümlein: inwiefern soll und kann aufklärung über das thema essstörungen ins "bildungssystem neu" integriert werden? ich fände das außerördentlich wichtig!

Rahel Jahoda : Jaaaaaaaaaaaa! Bin ich absolut dafür. Ich denke, dass Aufklärung bzw. Prävention gut durchdacht sein muss und vor allem den Schwerpunkt auf Aufbau des Selbstbewusstseins hat. Körperwahrnehmung zu erlernen und Strategien zu entwickeln wie ich mit Konflikten bzw. mit mir unangenehmen Dingen umgehen kann ohne Essen bzw. Nicht-Essen als Lösungsstrategie verwenden zu müssen.

Userfrage per Mail: Warum eigentlich gilt Adipositas nicht als Ess-Störung?

Rahel Jahoda : Adipositas ist eine medizinische Diagnose, mittlerweile existiert Binge Eating Disorder als Essstörungsdiagnose.

Sabine Lechner1: kann man sich als essgestörte person eigentlich auf krankenschein behandeln lassen, oder muss man privat für die kosten aufkommen?

Rahel Jahoda : Zum Teil gibt es Psychotherapie auf Krankenschein. Wir von Intakt haben mit der KFA einen Vertrag, d.h. die kompletten Kosten werden übernommen. Mit der WGKK stehen wir in Verhandlung. Bei Intakt gibt es sonst die übliche Kassenrefundierung der psychotherapeutischen Betreuung und der medizinischen Behandlung. In den Spitälern gibt es Turnusse die essstörungsspezifische Angebote beinhalten und von den Kassen getragen werden.

clementinchen: kann es passieren dass man (z.B. bei kindern) essstörungen auslöst indem man ständig auf die gefahren, gesunde ernährung etc. hinweist- hypersensibilität als auslöser?

Rahel Jahoda : Natürlich kann es passieren, dass das als Druck empfunden wird und eine Essstörung eventuell dadurch entstehen kann, wobei das als alleinige Ursache sicher nicht der Grund ist.

Userfrage per Mail: Welche Vorteile bietet Körpertherapie im Vergleich zu Psychotherapie?

Rahel Jahoda : Vorweg Körpertherapie gilt nicht als Psychotherapie und nach dem ich selber auch Körpertherapeutin bin traue ich mir zu sagen, dass Körpertherapie alleine zu wenig sein wird. Außerdem - nachdem Essstörungen auf dem Körper ausgetragenen Krankheiten sind und zum anderen extrem mit Schamgefühlen besetzt sind ist Körpertherapie oft eine "Überforderung" für die KlientIn. Mir erscheint es sinnvoll gemeinsam mit der KlientIn in einem Erstgespräch zu klären welche Therapieform für sie die adäquate sei.

blog.andreaslindinger.net: Dank Sascha Walleczek wird übergewichtigen Personen medienwirksam im TV geholfen. Würde Sie ein ähnliches Format für Menschen mit Essstörungen reizen, um ähnliche Aufmerksamkeit für dieses Problem zu bekommen?

Rahel Jahoda : Ich persönlich würde nicht mit den Betroffenen in einem dermaßen abwertenden Ton sprechen wollen und außerdem gefällt mir der Umgang mit Lebensmitteln in dieser Sendung nicht. Ich denke es geht darum Nahrungsmittel als etwas Kostbares sehen zu lernen die uns Genuss verschaffen und uns nähren. Prinzipiell wäre es aber dennoch gut möglichst viel Medienpräsenz über Essstörungen zu haben um auf diese Thema aufmerksam machen zu können.

ModeratorIn: 14 Uhr vorbei, die Chat-Zeit ist leider um: Vielen Dank für die rege Beteiligung! Das letzte Wort hat die Expertin

Rahel Jahoda : Ich danke allen für die produktive Diskussion.