Qualle, Rekonstruktion, Burgessomedusa phasmiformis
Burgessomedusa phasmiformis zählte zu den ersten frei schwimmenden Quallen der Erdgeschichte. Etwa so stellen sich die Forscher dieses bis zu 20 Zentimeter hohe Tier vor.
Illustr.: Christian McCall

Quallen sind offensichtlich ein Erfolgsrezept der Evolution: Die schirmförmigen Wasserwesen existieren auf der Erde bereits seit mindestens einer halben Milliarde Jahre und haben sich in dieser langen Zeit auf dem ersten Blick praktisch kaum verändert. Damit gehören sie und ihre Verwandten aus dem Stamm der Nesseltiere (zu denen auch die Korallen und Seeanemonen zählen) zu den ältesten Tieren der Erdgeschichte. Wie lange es diese filigranen Schwimmer tatsächlich schon gibt, war bisher unklar, denn halbwegs gut erhaltene Fossilien aus der Frühzeit des Lebens sind äußerst selten.

Schatztruhe Burgess-Schiefer

Das ist auch kein Wunder, denn Quallen bestehen zu über 90 Prozent aus Wasser. Nimmt man den flüssigen Anteil weg, bleibt von ihnen kaum etwas übrig. Dieser Tatsache zum trotz existieren an einigen wenigen Fundorten dennoch Quallenfossilien der ersten Stunde. Als besonders fundreich hat sich dabei der kanadische Burgess Shale erwiesen. Die Formation entstand im Kambrium und hat auch die ältesten frei schwimmenden Quallen konserviert, wie eine aktuelle Studie nun erstmals nachgewiesen hat.

Der 505 Millionen Jahre alte Burgess-Schiefer im Yoho-Nationalpark in den kanadischen Rocky Mountains wurde 1909 entdeckt und zählt heute zum Unesco-Welterbe. Besonders feinkörniger Schieferton und spezielle chemische Bedingungen in den damaligen Sedimenten in 200 Metern Meerestiefe konservierten einen üppigen Querschnitt des marinen kambrischen Ökosystems.

Qualle, Fossilien, Burgess Shale
Ausgezeichnet erhaltene Fossilien zweier Burgessomedusa-Exemplare. Das kleinere Tier links steht auf dem Kopf.
Foto: Jean-Bernard Caron/Royal Ontario Museum

Dazu zählen auch Quallen, die nahe den Wurzeln des Medusenstammbaums angesiedelt sind. Die älteste bekannte Vertreterin unter ihnen hat nun einen Namen erhalten: Burgessomedusa phasmiformis. Ein Team um Justin Moon von der University of Toronto, Ontario, berichtet über sie in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals "Proceedings of the Royal Society B".

Die erste Freischwimmer

Die teilweise überraschend gut erhaltenen Überreste von Burgessomedusa sind Teil der Burgess-Shale-Sammlung des Royal Ontario Museum (ROM) in Toronto. Rund 170 Exemplare der uralten Spezies befinden sich mittlerweile dort und boten den Fachleuten die Gelegenheit, die Feinheiten der inneren Anatomie und der Tentakel genauer zu untersuchen. Im Großen und Ganzen glich Burgessomedusa einem 20 Zentimeter hohen und acht Zentimeter breiten Fingerhut mit annähernd hundert kurzen Tentakeln am unteren Hutrand.

Burgessomedusa phasmiformis lebte vor 505 Millionen Jahren und belegt durch seine Existenz, dass sich frei schwimmende Medusen schon im mittleren Kambrium entwickelt hatten.
Science X: Phys.org, Medical Xpress, Tech Xplore

Diese Details ermöglichten den Forschenden schließlich die Einordnung von Burgessomedusa in die Gruppe der Medusozoa – und sie lieferten in der Folge den endgültigen Beleg dafür, dass sich große, frei schwimmende Quallen mit ihren typischen untertassen- oder glockenförmigen Körpern bereits vor 505 Millionen Jahren entwickelt hatten.

Nesseltiere durchlaufen komplexe Lebenszyklen mit einer oder zwei Körperformen: eine vasenförmige, in der Regel sesshafte Entwicklungsstufe, die als Polyp bezeichnet wird, und ein glocken- oder untertassenförmiges Stadium, das man als Meduse oder Qualle kennt. Dieses Stadium kann sowohl frei schwimmend als auch sesshaft sein.

Unklare Evolutionsgeschichte

Während versteinerte immobile Polypen bereits in rund 560 Millionen Jahre alten Gesteinen identifiziert wurden, war der Zeitpunkt, an dem die ersten tatsächlich frei schwimmenden Medusen aufgetaucht sind, bisher nicht genau bekannt. Was man über die Evolutionsgeschichte dieser Wesen bis dato zu wissen glaubte, basiert auf mikroskopisch kleinen, versteinerten Larvenstadien und den Ergebnissen molekularer Studien an lebenden Arten.

"Obwohl man davon ausgeht, dass Quallen und ihre Verwandten zu den frühesten Tiergruppen gehören, die sich entwickelt haben, waren sie in den Fossilien aus dem Kambrium bemerkenswert schwer zu lokalisieren. Diese Entdeckung lässt keinen Zweifel daran, dass sie schon zu dieser Zeit herumschwammen", sagt Co-Autor Joe Moysiuk von der Universität Toronto, der auch am ROM tätig ist.

Qualle, Anomalocaris, Fossilien, Burgess Shale
Dieses spektakuläre Stück aus dem Burgess-Schiefer vereint Fossilien des räuberischen Gliederfüßers Anomalocaris canadensis (rechts) und zwei Burgessomedusa-phasmiformis-Exemplare (links).
Foto: Desmond Collins/Royal Ontario Museum

Komplexe Nahrungskette

Die fossilen Exemplare, auf denen die aktuelle Studie basiert, waren größtenteils in den späten 1980er- und 1990er-Jahren im Burgess-Schiefer gefunden worden. Ihre Existenz verrät auch so manches über die ökologischen Verhältnisse im mittleren Kambrium. So zeigt sich dadurch etwa, dass die Nahrungskette am Beginn der tierischen Evolution bereits weitaus komplexer war als bisher angenommen. Die Gruppe der Räuber beschränkte sich nicht allein auf große schwimmende Gliederfüßer wie Anomalocaris.

"Es ist eine wunderbare Entdeckung, dass solche unglaublich empfindlichen Tiere in den Gesteinsschichten auf den Gipfeln dieser Berge erhalten sind", freut sich Co-Autor Jean-Bernard Caron, ebenfalls von der University of Toronto. "Burgessomedusa trägt zur Komplexität der kambrischen Nahrungsnetze bei, und wie Anomalocaris, das in der gleichen Umgebung lebte, waren diese Quallen effiziente schwimmende Raubtiere." (Thomas Bergmayr, 2.8.2023)