Vesuvius Challenge
Dieser Ausschnitt einer Schriftrolle zeigt die nun lesbar gemachten Passagen.
Vesuvius Challenge

Am Anfang war das griechische Wort πορφυρας. Es steht für "violetten Farbstoff" und war der erste Begriff, der von den verkohlten Papyrusrollen aus dem antiken Herculaneum digital abgelesen werden konnte. Die römische Stadt wurde wie Pompeji vor rund 2.000 Jahren bei einem katastrophalen Ausbruch des Vesuvs zerstört, viele Schriftstücke wurden dadurch scheinbar für immer unleserlich. Als im 18. Jahrhundert diese Bibliothek entdeckt wurde, gab es nur beschränkte Mittel, die Rollen zu lesen. Der technologische Fortschritt machte das Unvorstellbare dank Röntgenmethoden und IT möglich: Im vergangenen Herbst konnten Fachleute das erste Wort kenntlich machen, ohne den Papyrus zu beschädigen.

Nun ist man einen großen Schritt weiter: Die ersten Passagen der Texte wurden erfolgreich entziffert. Die Aufregung ist groß, denn es handelt sich um einen bisher völlig unbekannten Text, mehr als 2.000 griechische Buchstaben, die vermutlich aus der Feder des Dichters Philodemus von Gadara stammen. In 15 Spalten schreibt er über Lustgewinn und bringt ein aktuelles Thema für eine krisengeplagte Zeit auf: Wie wirkt sich Mangel – beispielsweise an Lebensmitteln – auf das Lustempfinden aus? Und bereiten uns Dinge mehr Freude, wenn es von ihnen nur eine geringe Menge gibt?

Schriftrolle
So sehen die verkohlten Papyrusrollen aus, die nun wieder lesbar gemacht werden.
Vesuvius Challenge

Die Antwort von Philodemus – beziehungsweise des Autors des nunmehr lesbaren Texts – ist eindeutig: "Wie auch bei Nahrungsmitteln halten wir Dinge, die knapp sind, nicht per se für angenehmer als solche, die im Überfluss vorhanden sind." Darüber hinaus schreibt er etwa über unterschiedliche angenehme Geschmäcker, erwähnt werden etwa Kapern. In einem anderen Teil des Textes geht es um einen gewissen Xenophantus, der als Musiker bereits in anderen Texten von Philodemus sowie bei Autoren wie Seneca erwähnt wird. Sein aufwühlendes Flötenspiel soll gar Alexander den Großen in Aufruhr gebracht haben, sodass dieser nach einer Waffe griff.

Harsche Worte findet er für seine philosophischen Gegner, zu denen etwa die Stoiker zählen, die "nichts über das Vergnügen zu sagen haben, weder im Allgemeinen noch im Besonderen, wenn es sich um eine Frage der Definition handelt". Die Papyrologin Federica Nicolardi von der Universität Neapel Federico II ist überzeugt: "Dies ist der Beginn einer Revolution in der Papyrologie von Herculaneum und generell in der griechischen Philosophie."

Besessene Informatiker

Hinter der Entdeckung stecken Meisterleistungen junger Informatiker und Informatikerinnen, die offenbar zumindest phasenweise täglich ans Römische Reich denken. Wenige ausgewählte Papyri wurden computertomografisch durchleuchtet, gescannt und Fachleuten digital zur Verfügung gestellt. Per Machine-Learning wird die Rolle virtuell so entzerrt und die Beschriftung so kontrastreich angepasst, dass man möglichst viel davon lesen kann. Das Ganze ist als Wettbewerb angelegt: Bei der Vesuvius Challenge werden hervorragende Ergebnisse mit Preisgeldern belohnt.

REVEALED: Herculaneum Scrolls First Text: A Vesuvius Challenge Update
Hier wird gezeigt, in welchen Schritten die Papyri analysiert werden.
Univ. of Kentucky Pigman College of Engineering

Für die Entzifferung der neuen Passagen erhalten drei junge Studenten gemeinsam den Hauptpreis und damit 700.000 US-Dollar: Youssef Nader (Freie Universität Berlin), Luke Farritor (University of Nebraska-Lincoln) und Julian Schilliger (ETH Zürich). Sie haben sich bereits zuvor bei dieser Challenge hervorgetan, der 21-jährige Farritor etwa landete bei der Aufgabe, das erste Wort zu erkennen ("violette Farbe" oder "violette Tücher"), auf dem ersten Platz.

Ins Leben gerufen wurde der Wettbewerb unter anderem vom ehemaligen CEO von Github Nat Friedman. Es sei anfangs gar nicht klar gewesen, ob das Projekt trotz des finanziellen Anreizes funktionieren könne: "Das, was passiert ist, ist magisch", sagt Friedman.

In den vergangenen Monaten haben sich Nader, Farritor und Schilliger als Team zusammengetan und die nützlichen Algorithmen entwickelt. "Der Adrenalinrausch hat uns angetrieben", sagt Nader, der aus Ägypten stammt und an der FU Berlin in der Arbeitsgruppe Artificial & Collective Intelligence forscht. Wie besessen arbeiteten er und seine beiden Mitstreiter an dem Projekt – 20 Stunden pro Tag und mehr. "Ich wusste nicht, wann ein Tag endete und der nächste begann."

Erotik und Epikur

Die etwa 1.800 Papyrusrollen aus Herculaneum stellen die einzige als Ganzes erhaltene Sammlung von Texten aus der Antike dar. Darunter finden sich Schriften, die in keiner anderen Quelle existieren. Die verkohlten Schriftstücke wurden teilweise aufgeschnitten und aufgerollt, was oft dazu führte, dass sie zerbröselten, jedenfalls aber zerstört wurden. Die "hoffnungslosen Fälle", die man damals nicht anrührte, können nun mithilfe von Röntgentechniken analysiert werden.

In den bisher lesbaren Fragmenten aus aufgewickelten Papyri stießen Fachleute bereits auf den Dichter und Philosophen Philodemus (oder Philodem). Philodemus zog nach Herculaneum und dürfte dort auch gestorben sein – Jahrzehnte vor dem zerstörerischen Vulkanausbruch. Womöglich handelt es sich auch um seine eigene Bibliothek, die am Fundort entdeckt wurde, die sich während der Katastrophe mit heißem Gas und Schlamm füllte, der dafür sorgte, dass die Schriftrollen deformiert und verkohlt wurden.

In diesem Video sieht man (etwa ab der Hälfte) eine Simulation von der Zerstörung der Bibliothek.

Nun erfährt man mehr über diesen Schriftsteller, der zuvor als Autor erotischer Lyrik in einer Gedichtsammlung aufgetaucht war. Die vor längerer Zeit entblätterten Papyri aus Herculaneum offenbarten bereits, dass sich Philodemus philosophisch dem Epikureismus verschrieben hatte. Ein gelungenes, glückseliges Leben erreicht man dieser Denkschule zufolge hedonistisch, also indem man Lustgewinn anstrebt – nicht unbedingt durch möglichst viele sinnlich ansprechende Erfahrungen, sondern durch einen tugendhaften Lebensstil.

Nächstes Ziel: 90 Prozent

Was er darüber hinaus zu sagen hatte, dürften die nächsten Schritte im Projekt offenbaren. Erst fünf Prozent des aktuellen Papyrus wurden nun enthüllt. Innerhalb des Jahres 2024 soll ein weiterer gewaltiger Sprung kommen: Es geht darum, 90 Prozent aller vier gescannten Papyri lesbar zu machen. Das sollte es erleichtern, die übrigen 800 Schriftrollen, die sich noch einscannen lassen, zu lesen.

Ausgrabungen könnten sogar weitere Rollen zutage fördern. Doch es fehlt an Geld: Derzeit werden in Pompeji und Herculaneum prioritär bereits ausgegrabene Teile der Städte restauriert und konserviert, weil sie bereits verfallen. Die 20 Meter dicke Schlammschicht hatte die Stätten über Jahrhunderte geschützt, auch die Verkohlung der Papyri trug letztendlich dazu bei, sie vor dem Zahn der Zeit zu schützen.

Angesichts der Besonderheit dieser Bibliothek von Herculaneum warten Fachleute gespannt darauf, was die Rollen in diesem Jahr und darüber hinaus enthüllen werden. Man könnte annehmen, dass die einzelnen Texte weniger Aufsehen erregen werden, je mehr davon entziffert wird, bis sie sozusagen "im Überfluss vorhanden" sind – wie die Güter, über die Philosoph Philodemus schreibt. Ob es uns von Natur aus leichter fällt, auf jene Dinge zu verzichten, die wir bereits in Hülle und Fülle um uns herum haben? Im nun kenntlich gemachten Text hält er fest: "Über solche Fragen wird man häufig nachdenken." (Julia Sica, 7.2.2024)