Es war keine Geburt, die sie zum zweiten Mal zur Mutter gemacht hat. Es war der Anruf einer Sozialarbeiterin. Ein kleiner Bub, knapp zwei Jahre, suche ein sicheres Zuhause. Katharina Petrak hatte gleich das Gefühl, dass er in ihre Familie passen könnte. Der Bub hat mehrere Geschwister, ist es also gewöhnt, andere Kinder um sich zu haben. Daher wäre es nichts für ihn, als Einzelkind aufzuwachsen, er könnte sich bei ihr und ihrem leiblichen Sohn wohlfühlen.

Ein paar Tage später konnte Petrak den Buben treffen. Ein Foto von diesem ersten Treffen hängt in ihrem Wohnzimmer. Es zeigt ihn auf einem gelben Hüpftier, sein Blick ist schüchtern, neugierig. Kurze Zeit später ist er bei Petrak eingezogen. Das ist etwa fünf Jahre her. Hier erzählt sie von ihren Erfahrungen als Pflegemama.

Derzeit leben in Österreich über 5.000 Kinder in Pflegefamilien. In Wien werden pro Jahr 90 Kinder aus ihren Familien genommen – etwa weil sie vernachlässigt werden, Gewalt erleben mussten oder ihre Eltern mit Süchten kämpfen. Die Kinder kommen zunächst in die Krisenpflege. Und die leiblichen Eltern bekommen Auflagen. Bessert sich ihre Situation, können die Kinder zurück. Ist das nicht der Fall, suchen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Pflegeeltern, bei denen die Kinder auf Dauer bleiben können. Paare und Alleinstehende können sich melden. In einem etwa sechsmonatigen Kurs werden sie auf die Aufgabe vorbereitet und später auch finanziell unterstützt.

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Pflegeeltern geben einem Kind ein sicheres Zuhause. Bei der Langzeitpflege in den allermeisten Fällen, bis es erwachsen ist und darüber hinaus.
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Pflegeeltern werden laufend gesucht, besonders groß ist der Bedarf in Wien. Hier würden rund hundert Pflegeeltern mehr gebraucht, heißt es von der Kinder- und Jugendhilfe (MA 11). Die Alternative zur Pflegefamilie sind betreute Wohngemeinschaften. Es gibt sie auch für Kleinkinder, auch wenn sie für die Kleinsten nicht der optimale Ort sind, denn es fehlen stabile Bezugspersonen, die gerade für Kinder, die keine sichere Bindung erlebt haben, umso wichtiger sind. Deshalb sollen Kinder von null bis drei in einer Pflegefamilie unterkommen.

Neben den vielen Kindern, die ein stabiles Zuhause suchen, gibt es zahlreiche Menschen mit Kinderwunsch. Die Frage liegt also nahe: Warum entscheiden sich nicht mehr Menschen für ein Pflegekind?

Zu wenig Wissen

Einer der Gründe ist ein Mangel an Information. Viele denken gar nicht an diese Option, wenn es an die Familienplanung geht. Dabei ist auffallend, wie wenig die Pflegeelternschaft beworben wird. Ganz im Gegensatz zur offensiven Werbung von Kinderwunschkliniken, die um ihre Kundinnen und Kunden keilen. Und den schönen, romantisierten Bildern, die in den sozialen Medien rund um Schwangerschaft auftauchen. Da entsteht der Eindruck: Schwanger werden ist der Plan A, einen anderen Plan gibt es nicht. Um mehr Pflegeeltern zu gewinnen, hat der Wiener Stadtrechnungshof im Vorjahr den zuständigen Stellen bereits zu einer "intensiveren Öffentlichkeitsarbeit" geraten.

Justyna Vicovac, stellvertretenden Leiterin des Bereichs Pflegekinder, gibt zu, dass die Pflegeelternschaft in Österreich "nicht so bekannt" sei. Daran wolle man noch arbeiten. Eine große Kampagne starte noch dieses Jahr.

Selbst wer es auf die Homepage der in Wien zuständigen Stelle schafft, findet aktuell Informationen, die eher verunsichern als überzeugen. Dort heißt etwa, Pflegeeltern seien "Eltern auf Zeit" und ein "Pflegekind kann ein eigenes Kind nie ersetzen". Das sehen die Pflegeeltern, mit denen DER STANDARD gesprochen hat, ganz anders.

Solche Aussagen finde er sogar problematisch, sagt Gerald Brandstätter, ein Pflegevater aus Kärnten. Seine Frau und er haben sich für die Pflegeelternschaft entschieden, da sie zunächst nicht selbst schwanger werden konnten. "Als ich meinen Großen das erste Mal in seinem Gitterbett betrachtet habe, habe ich festgestellt, dass es keine Steigerungsstufe mehr geben kann. Auch ein leibliches Kind könnte ich nicht mehr lieben als ihn." Als ihr erster Pflegesohn ein Jahr alt war, entschied sich das Paar für ein zweites Pflegekind – und fand gleichzeitig heraus, dass sie nun doch ein leibliches erwarten. "Meine Frau und ich lieben alle drei gleich und von ganzem Herzen und werden immer für sie da sein." Die Geschichte der Familie können Sie hier nachlesen.

"Auch ein leibliches Kind könnte ich nicht mehr lieben als ihn." (Pflegevater)

"Bewerberinnen und Bewerber werden von uns über alle rechtlichen Möglichkeiten informiert", sagt Vicovac dazu. Denn theoretisch könnte den leiblichen Eltern das Sorgerecht wieder zuerkannt werden, dann müssten die Kinder bei ihren Pflegefamilien ausziehen. Das treffe jedoch nur wenige – Vicovac spricht von ein bis zwei Prozent.

Die Langzeitpflege ist dazu gedacht, ein dauerhaftes Zuhause für die Kinder zu bieten. "Wenn Kinder schon einige Zeit bei einer Pflegefamilie gelebt haben, bauen sie eine Bindung auf. Eine Beziehung, die ganz viel Stabilität und Sicherheit für ein Kind bietet", sagt Vicovac. Aus dieser Sicherheit wolle man es dann auch nicht mehr herausreißen. Dennoch sollen angehende Pflegeeltern zumindest über die Möglichkeit Bescheid wissen.

Die Herkunft kennen

Auch die Kontakte zu den leiblichen Eltern, die bei Dauerpflegefamilien einmal monatlich stattfinden, schrecken einige ab. "Es fällt bestimmt vielen Pflegeeltern schwer, dass ihre Kinder auch noch leibliche Eltern haben", sagt Miriam L. Sie hat gemeinsam mit ihrer Schwester Ruth zwei Pflegekinder aufgenommen. Die Mädchen sind jetzt drei und vier Jahre alt. Ihre jüngste Tochter war zunächst nur zur Krisenpflege bei den Schwestern. Als sie erfuhren, dass das Mädchen eine Erkrankung hat, entschieden sie sich dazu, sie auf Dauer zu behalten. Denn Kinder mit Erkrankungen oder Behinderungen finden besonders schwer einen Platz bei einer Pflegefamilie.

Die Frauen halten es für wichtig, dass ihre Töchter wissen, wo sie herkommen, und verstehen, warum sie nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können. "Dann müssen sich unsere Kinder nicht bei jeder Frau auf der Straße fragen, ob das ihre Mama sein könnte", sagt Ruth L. Sie ergänzt: Zwar seien die Kontakte nicht unbedingt ein Termin, auf den man sich freue, aber sie gehörten eben dazu. Sie haben für ihre Töchter ein Biografiebuch erstellt, in dem sie alles notiert haben, was sie über die leiblichen Eltern und deren Familien bei den Terminen erfahren haben. Mittlerweile haben sie keine Kontakte mehr, weil die leiblichen Eltern ihrer Töchter sich irgendwann nicht mehr gemeldet haben.

Ähnlich beschreiben es andere Pflegeeltern: Die Treffen mit den leiblichen Eltern seien weniger geworden, bis sie irgendwann gar nicht mehr stattfanden. Die meisten finden das schade, aus ähnlichen Gründen wie Miriam und Ruth L.

"Man malt sich weiß Gott was aus", sagt Pflegevater Martin G. aus Oberösterreich, der eigentlich anders heißt. Seine Frau und er haben mehrere Fehlgeburten erlebt und sind heute Eltern eines leiblichen und eines Pflegekindes. G. sagt, er habe Sorge gehabt, gegenüber der leiblichen Mutter des Pflegekinds könne ein Konkurrenzdenken entstehen. Das sei aber nie der Fall gewesen. Nichtsdestotrotz empfindet er die Besuche als eine emotionale Herausforderung. "Man merkt, dass es der leiblichen Mutter bis heute schwerfällt, die Situation zu akzeptieren."

Unkomplizierter Austausch

Die fehlenden Informationen, die Angst davor, das Kind wieder hergeben zu müssen, oder Vorbehalte: Das sind also Gründe dafür, dass viele die Möglichkeit gar nicht erst in Betracht ziehen. Für Justyna Vicovac von der Wiener Kinder- und Jugendhilfe spielen jedoch auch aktuelle Krisen eine Rolle: "Wir merken schon, dass Menschen vorsichtiger geworden sind. Die Weltlage, aber auch die Teuerung sind ausschlaggebend dafür, was sich jemand zutraut." Das betreffe auch die Entscheidung, ein Kind aufzunehmen, von dem man oft nicht wisse, was es erlebt habe. In einer Zeit, in der ohnehin immer weniger junge Paare überhaupt Kinder wollen.

Nicht gerade zuträglich ist da womöglich auch, dass über Pflegefamilien "fast nur negative Geschichten im Umlauf sind", wie es eine Pflegemutter ausdrückt. Dem gelte es Positives entgegenzusetzen. Ihre Idee wäre ein Chat, in dem sich Interessierte unkompliziert mit Pflegeeltern austauschen und Fragen stellen könnten.

Natürlich hätten sie nie den Schmerz erfahren, den ein unerfüllter Kinderwunsch mit sich bringe, sagt Miriam L. Dennoch kann sie nicht nachvollziehen, warum es für viele Paare unbedingt ein eigenes, leibliches Kind sein muss. "Ob es jetzt meine Augen hat oder nicht, für mich wiegt es das nicht auf. Es gibt einfach diese Kinder und diese Not." Sie ist sich sicher, dass sich viele Menschen das nicht zutrauen, obwohl sie es eigentlich könnten. Ihre Erfahrungen sind in diesem Artikel detailliert nachzulesen.

"Ob es jetzt meine Augen hat oder nicht, für mich wiegt es das nicht auf. Es gibt einfach diese Kinder und diese Not." (Pflegemutter)

Fundierte Entscheidung

Allen, die noch unschlüssig sind, ob sie ein Pflegekind aufnehmen sollen, empfiehlt Pflegevater Martin G., sich für den Kurs anzumelden. Dort gebe es viel angeleitete Selbstreflexion, zudem lerne man, womit man rechnen müsse und welche Möglichkeiten es gebe. "Je mehr man sich mit dem Thema auseinandersetzt, desto fundierter kann man sich entscheiden."

Er rät Pflegeeltern, sich voll und ganz auf die Kinder einzulassen. "Wir haben uns vorgenommen, uns nicht von unseren eigenen Ängsten leiten zu lassen, und unseren Pflegesohn wie unser eigenes Kind behandelt." Anders gehe es ohnehin nicht, Pflegekinder hätten genauso viel Liebe verdient wie leibliche.

"Wir geben ihm ein liebevolles Zuhause, solange er es braucht, und wir sind seine zweite Familie", sagt Katharina Petrak, die Pflegemutter vom Anfang des Artikels. "Aber ich bin mir fast sicher, dass er bei uns bleiben wird, bis er erwachsen ist." Ihren Pflegesohn einmal zu adoptieren sei ihr nicht so wichtig. "Für mich macht es keinen Unterschied – es ist mein Kind. Dieses Gefühl wächst mit den Momenten, die man zusammen erlebt. Natürlich ist es auch manchmal anstrengend, aber das ist es immer, wenn man Kinder hat." (Lisa Breit, Bernadette Redl, 14.2.2024)