Manche türkise Abgeordnete blicken sich in diesen Tagen sorgenvoll in den Reihen des Nationalrats um: Welcher Parteikollege sitzt auch in einem Jahr noch hier? Welche Mitmandatarin schafft es in den kommenden Monaten auf einen wählbaren Platz? Oder wird man gar selbst zum politischen Opfer eines ÖVP-Stimmenverlusts?

Der Volkspartei steht ein schmerzhafter Verkleinerungsprozess bevor. Der aktuelle Nationalratsklub mit seinen 71 Abgeordneten ist das Ergebnis von Sebastian Kurz' Wahlerfolg im Jahr 2019: Fast 38 Prozent der Stimmen erreichte die ÖVP damals. In der aktuellen STANDARD-Umfrage steht die Partei bei 22 Prozent.

Karl Nehammer vor dem türkisen Logo des ÖAAB
Prominente Parteimitglieder wie Bundeskanzler Karl Nehammer stammen aus dem Arbeitnehmerbund der ÖVP.
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Türkise Revierkämpfe

Bis zum regulären Wahltermin im Herbst ist noch ein gutes halbes Jahr Zeit. Aber schon jetzt ist klar: Die Volkspartei wird Sitze einbüßen. Das sorgt schon lange vor der Listenerstellung für heftige Revierkämpfe innerhalb der Partei, wie DER STANDARD berichtete.

Nun zeichnet sich ab, wer der große Verlierer der Mandatsmangelverwaltung werden könnte: der türkise Arbeitnehmerflügel.

Einflussreiche Mitglieder

Denn der Österreichische Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund (ÖAAB) gilt zwar als größte Teilorganisation der ÖVP. Aber die Wahl könnte das ändern. Einflussreiche Parteimitglieder wie Bundeskanzler Karl Nehammer sowie zahlreiche weitere Regierungsmitglieder, Landeshauptleute und Abgeordnete stammen aus dem Bund.

Sitzungssaal des Nationalrats
Im Sitzungssaal des Nationalrats sitzen die 71 ÖVP-Abgeordneten ganz rechts. Nach der Wahl dürften es weniger sein.
APA/MAX SLOVENCIK

Aber: Der ÖAAB bezieht diese Macht aus der zweiten Reihe. Das zeigt eine STANDARD-Auswertung der Nationalratsmandate, die der ÖVP nach der Wahl 2019 zuerkannt wurden. Kurz' Wahlerfolg von damals führte nämlich dazu, dass die Volkspartei besonders viele "schnelle" Mandate sammeln konnte – also Plätze auf der ersten Ebene des österreichischen Listenwahlrechts. In diesen Wahlkreisen erhalten Parteien Mandate, die in den jeweiligen Regionen stark sind.

ÖAAB profitierte von Kurz' Ergebnis

Die Hürde ist dabei recht hoch. Überhaupt ein Regionalwahlkreismandat zu erlangen zählt für die meisten Parteien schon als Erfolg. Die ÖVP schaffte 2019 in 14 Regionalwahlkreisen sogar ein zweites Mandat. Davon profitierte besonders oft der Arbeitnehmerbund. Es sind also vor allem ÖAAB-Plätze, die einem Stimmenverlust zum Opfer fallen würden.

Exakt beziffern lassen sich weder Status quo noch eine Prognose, weil manche Abgeordnete mehreren Bünden angehören und die finalen Mandate durch Verzichtserklärungen noch durchgereicht werden. Doch eindeutig ist: Rund die Hälfte seiner Regionalwahlkreismandate hatte der ÖAAB den zweiten Listenplätzen zu verdanken, die im Herbst wohl größtenteils leer ausgehen werden.

Ein Bund als Sammelbecken

Die aktuelle Stärke und die künftige Schwäche des ÖAAB sind leicht zu erklären: Der Wirtschaftsbund sammelt die Unternehmerinnen, der Bauernbund die Landwirte. Und der ÖAAB? Den Rest. Wer in der streng nach Bünden organisierten Volkspartei einen Platz finden will und nicht zu einer eng definierten Zielgruppe gehört, findet im ÖAAB am ehesten einen Platz. Das ist ein Riesenvorteil in Zeiten, in denen die Partei breit aufgestellt ist. Und ein eklatanter Nachteil, wenn es mit den Posten eng wird.

Wie effektiv die ÖAAB-Verluste in der Listenerstellung ausgebügelt werden, ist nun Gegenstand ÖVP-interner Verhandlungen. Denn auch über die Landeslisten und die Bundesliste werden Stimmen in Mandate umgewandelt – und zwar jene Stimmen, die in den Regionalwahlkreisen nicht für ein "ganzes" Mandat gereicht haben.

Feilschen um weitere Listenplätze

Bei der Erstellung dieser Listen reden traditionell alle Parteiplayer mit. Es geht bei der ÖVP aber nicht nur um einen Ausgleich zwischen den Bünden, sondern insgesamt um einen letztlich ausgewogenen Nationalratsklub. Denn die regionalen Parteigrößen, die auf Platz eins der untersten Listen kandidieren, sind nicht nur oft Bauern- oder Wirtschaftsbündler, sondern auch oft etwas ältere Männer. Und auch Geschlecht, Alter, Beruf und Erfahrung sollen letztlich "abgemischt" werden.

Umso härter wird der Kampf um die türkisen Sitze also. Und umso schlechter sind die Aussichten der türkisen Arbeitnehmer, nach der Wahl noch als stärkster Bund zu gelten. (Sebastian Fellner, 14.2.2024)