Junge Frau mti roten Locken und grünem Pullover schaut traurig in die Kamera
Jugendliche, die ohnehin schon eine schwierige Vergangenheit haben, müssen mit 18 Jahren plötzlich auf ihren eigenen Beinen stehen.
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Die junge Frau lächelt über den Küchentisch, eine Kaffeetasse in ihrer Hand. Lena ist 21 Jahre alt und erzählt von der Zeit, als sie aus ihrem Zuhause ausziehen musste. Ihr Zuhause war eine Kinder- und Jugendwohneinrichtung. "Fünfzehn Jahre lang ist der ganze Haufen bei dir, und auf einmal bist du ganz allein", sagt Lena, die eigentlich anders heißt. Der Auszug hat ihr zu schaffen gemacht. Sie hatte Ängste, die Umstellung war groß. Vor allem der direkte und unmittelbare Kontakt mit vertrauten Bezugspersonen fehlte ihr. "Man muss sich immer selbst melden, wenn man etwas braucht." So wie Lena geht es in Österreich etwa 1.000 jungen Menschen jährlich, die in Kinder- und Jugendeinrichtungen groß geworden sind. Für sie gibt es eine eigene Bezeichnung: Care-Leaver.

In Österreich endet die gesetzliche Kinder- und Jugendhilfe mit dem 18. Geburtstag. Care-Leaver müssen dann die Angebote der Kinder- und Jugendfürsorge verlassen. Egal wie eng die aufgebauten Familienbande sind. Egal wie selbstständig die jungen Erwachsenen sich fühlen. Während andere Teenager in Österreich durchschnittlich erst mit 25 bis 26 Jahren von daheim ausziehen, müssen Jugendliche in der Obhut des Staates viel früher auf ihren eigenen Beinen stehen.

Lebenslange Folgen

Stephan Sting, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Klagenfurt, beschäftigt sich schon lange mit Fragen der Kind- Jugendhilfe. Er forscht seit einigen Jahren speziell zur Situation der Care-Leaver. Etwa: Welche Verhältnisse und Personen sind für junge Menschen nach Betreuungsende wichtig? Welche Unterstützung brauchen Care-Leaver in der Übergangsphase zur Selbstständigkeit? "Ein großer praktischer Nachteil der Care-Leaver besteht darin, dass ihr Verhältnis zur Familie schwierig ist", sagt Sting. Die Betroffenen würden meist weniger finanzielle und soziale Unterstützung als andere Gleichaltrige erhalten. "Es kommt zu einer massiven Chancenungleichheit, die auch auf andere Lebensbereiche überschwappt." Deswegen sollte es für die betroffenen Jugendlichen unbedingt die Möglichkeit geben, auch mit über 18 Jahren wieder in die Betreuung zurückzukehren, findet der Experte.

Ein Studienprojekt von 2018 zeigt die Bildungschancen und -wege von Care-Leavern auf. "Es stellte sich heraus, dass viele nur kurze Berufsausbildungen ergreifen, um dann relativ schnell Geld zu verdienen", sagt Sting. Eine höhere Bildung bleibe ihnen oft verwehrt und damit auch dieselben gesundheitlichen Chancen. Denn viele junge Erwachsene aus der Kinder- und Jugendhilfe würden aufgrund ihrer problematischen Familienerfahrungen psychische Belastungen mitbringen und Therapie benötigen. "Wenn sie aus ihren bekannten Strukturen aussteigen, brechen sie die Behandlung häufig ab", weiß Sting. Das steigert das Gefühl der sozialen Isolation und Einsamkeit und lässt Ängste nach dem Auszug wieder hochkommen.

Zwar kann die sozialpädagogische Betreuung unter gewissen Voraussetzungen bis zum 21. Lebensjahr verlängert werden. Die Umsetzung des Jugendhilfegesetzes variiert jedoch von Bundesland zu Bundesland. Und auch die Kriterien für eine Verlängerung sind regional sehr verschieden. Sie hängen nicht nur von den zuständigen Betreuungspersonen, sondern auch vom Willen des Jugendamts ab. "Unser Wunsch wäre ein Bundesgesetz, das von allen Ländern auszuführen ist", sagt Thomas Adrian, Einrichtungsleiter der Jugendnotschlafstelle der Caritas Wien.

Ungleiche Verhältnisse

Damit einheitliche Regeln für ganz Österreich geschaffen werden können, müsste erst in allen Bundesländern einstimmig dafür abgestimmt werden. Dadurch, dass die Angebote in den Bundesländern aber so unterschiedlich und auch nicht flächendeckend sind, ist es noch schwerer, auf einen Nenner zu kommen. Eine Statistik der Kinder- und Jugendhilfe aus dem Jahr 2022 belegt, dass Kärnten, Tirol und die Steiermark die meisten Hilfen für junge Erwachsene über 18Jahren anbieten.

Die Angebote im Burgenland, in Oberösterreich, Niederösterreich und Wien sind ausbaufähig. Zur Versorgungslage in Tirol nimmt Soziallandesrätin Eva Pawlata Stellung: "Die Notwendigkeit der Betreuung endet nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit, das Gesetz sieht auch explizit Leistungen für junge Erwachsene vor." Es gebe beispielsweise genügend Kriseneinrichtungen oder Betreutes Wohnen in Tirol. Außerdem würden Care-Leavern verschiedene Beratungs- und Unterstützungsleistungen offenstehen. Pawlata betont: "Die Aufmerksamkeit richtet sich natürlich auf die Bedürfnisse junger Erwachsener."

Wie verschieden diese sein können, weiß Philippe Holzknecht. Der Sozialpädagoge arbeitet in einer Wohneinrichtung von Pro Juventute, einer nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Kinder- und Jugendhilfe-Organisation. An einem Nachmittag kurz vor Weihnachten wirbeln in der Einrichtung die Kinder herum und verfolgen mit großen Augen, wie ihr Betreuer zum Interview in einem gemütlichen Nebenraum verschwindet. "Wir haben heute Weihnachtsfeier in der WG, da sind auch vier Care-Leaver dabei", erzählt Holzknecht. Ob die Jugendlichen nach ihrem Auszug noch Kontakt zu den Betreuungspersonen halten, sei unterschiedlich. "Das Um und Auf ist dafür die Beziehungsarbeit, die wir leisten", so der Sozialpädagoge.

Läuft mit 18 Jahren der Umzug von der Betreuungseinrichtung in die von Pro Juventute bereitgestellte Außenwohnung gut und gelingt auch das Ankommen in der ersten eigenen Wohnung, so würden sich die jungen Erwachsenen auch später noch melden. In der sogenannten vollen Erziehung der Kinder- und Jugendfürsorge werden die jungen Erwachsenen finanziell mitunter bis zum 21. Lebensjahr unterstützt. Wie lange oder intensiv die Begleitung nach dem 18. Lebensjahr ist, hängt sowohl vom sozialarbeiterischen Team als auch von der Selbstständigkeit des Jugendlichen ab. "Das ist schon ein Riesenschritt", sagt Holzknecht. "Ein paar machen das super, andere schaffen es leider nicht."

Betreuer bleiben freiwillig in Kontakt

Holzknecht ist es wichtig, die jungen Menschen so lange wie möglich auf ihrem Weg zu unterstützen – selbst wenn das manchmal die eigene Freizeit in Anspruch nimmt. "Wenn ich dann frei hab, telefoniere ich mit meinen Ehemaligen, oder ich unterstütze sie bei ihren Anliegen." Dazu gehört viel Idealismus. Zwar werden Care-Leaver-Stunden des Sozialpädagogen bezahlt, doch neben seinem anspruchsvollen Vollzeitjob bleibt oft wenig Zeit. Auch, weil es an Personal fehlt. "Da hast du nur mehr wenig Freizeit daneben, und dann bringt mir halt das Geld auch nichts", sagt Holzknecht und lacht.

Häufig sind es einfache Fragen, mit denen Care-Leaver zu den ehemaligen Betreuungspersonen kommen: Wie melde ich ein Auto an? Welche Versicherung schließe ich ab? Was mache ich, wenn ich arbeitslos bin? Es sind organisatorische oder finanzielle Probleme, die fast alle jungen Erwachsenen einmal beschäftigen – nur können Care-Leaver sie ihren Herkunftsfamilien oft nicht stellen.

"Wenn ich etwas reparieren musste, bin ich immer zu Hannes­, einem meiner ehemaligen Betreuer, gegangen, der hat mir dann geholfen." Lena, 21 Jahre

Lena kann sich gut erinnern, dass sie anfangs mit vermeintlichen Kleinigkeiten überfordert war: die Waschmaschine, die nicht mehr funktioniert, oder das kaputte Regal. "Wenn ich etwas reparieren musste, bin ich immer zu Hannes­, einem meiner ehemaligen Betreuer, gegangen, der hat mir dann geholfen." Auch Beziehungsfragen spielen je nach Verhältnis zu den Betreuungspersonen eine Rolle. Bei psychischen Problemen oder Streit mit ihrem Freund sucht Lena heute noch Rat bei ihrer ehemaligen Betreuerin, erzählt sie weiter.

Sich Hilfe zu suchen oder sich bei ehemaligen Betreuerinnen und Betreuern zu melden ist jedoch oft mit Scham verbunden. Aus aktuellen Interviews mit anderen Care-Leavern, die Pro Juventute führte, um die Angebote auf die Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen, gehen zahlreiche Probleme der Betroffenen hervor. Ein junger Mann beispielsweise berichtet, wie überfordert er sich zu Beginn sah, seine Wohnung sauber zu halten. Das Ergebnis: ein Berg voller Wäsche und Müll. Das sind Dinge, die man lernen kann, die aber ohne ausreichende Unterstützung schnell im Chaos enden.

Ohne familiäres Netzwerk kommt es bei den Care-Leavern zu einer massiven Chancenungleichheit.
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Mia (Name wurde geändert) wiederum berichtet von einer Schwangerschaft kurz nach ihrem Auszug von der Kinder- und Jugend-WG ins Betreute Wohnen. Angst und Sorgen plagten sie. Zu allem Überfluss musste sie schließlich aufgrund ihrer Schwangerschaft die Einrichtung wechseln. Eine schwierige Zeit, in der sie oft allein war, erzählt sie. Rückblickend hätte sie in dieser schwierigen Situation dringend emotionale und praktische Begleitung gebraucht. Eine ungeplante Schwangerschaft in jungen Jahren stellt schon harmonische Familiensysteme vor Herausforderungen. Care-Leaver stehen mit derart schweren Problemen oft allein da. "Wenn sie zu uns kommen, tragen die Jugendlichen und die Kinder ja bereits einen riesigen Rucksack, und ich glaube, vom System her abhängig, verlangt man ihnen schon viel ab", sagt Sozialpädagoge Holzknecht.

Eine mögliche Lösung, die er vorschlägt: Jeweils ein Betreuer oder eine Betreuerin pro WG sollte fixe Stunden haben, um die Fragen und Anliegen ihrer Care-Leaver zu bearbeiten. Wichtig für die Umsetzung sei dabei, dass die Care-Leaver diese Person bereits von vorher kennen und dadurch ein gewisses Vertrauensverhältnis gegeben ist.

Nicht alle sind erreichbar

Mittlerweile gibt es verschiedene Projekte oder Modelle, die Care-Leaver einen besseren Übergang ins Erwachsenenleben ermöglichen und ausreichend Unterstützung bieten sollen. Doch welche und wie viele Angebote in den einzelnen Bundesländern geschaffen werden, driftet aufgrund der fehlenden Regulierung stark auseinander. In Vorarlberg beispielsweise gibt es eine Art Gutscheinmodell, das dort gut funktioniere. Care-Leavern steht eine gewisse Anzahl an Beratungsstunden bei ihrem ehemaligen Betreuungsteam zur Verfügung. Das Problem jedoch in den vergleichbaren Modellregionen Salzburg und Wien: Betroffene müssen dort selbst aktiv um Unterstützung ansuchen. "In der Praxis zeigt sich, dass so etwas einfach nicht funktioniert", urteilt Sozialforscher Sting. Er sieht das Kinder- und Jugendhilfesystem weiterhin in der Verantwortung, sich aktiv um Care-Leaver zu kümmern und sie aus der Position der Bittsteller zu heben.

Die Volkshilfe Wien versucht mit einem Mentoring-Programm ein weiteres Modell: Erwachsene Mentoren nehmen bereits während der Zeit in der Kinder- und Jugendbetreuung Kontakt mit zukünftigen Care-Leavern auf. Durch die Vertrauensbeziehung sind die Erwachsenen später geeignete Ansprechpersonen. "Es gibt da durchaus förderliche Beziehungen, die dadurch entstanden sind", meint Sting.

Den Vorschlag, ausgewiesene Betreuer mit fixen Stunden für Care-Leaver-Betreuung auszustatten, hält er zwar für einen richtigen Schritt, aber dennoch nicht für ausreichend. "Das hat halt den Effekt, dass jene Menschen, die sich mit der Betreuung nicht so wohlgefühlt haben, nicht bereit sind, da dann wieder hinzugehen." Diejenigen würden durchs Raster fallen, obwohl sie womöglich in besonders schwierigen Situationen sind. "Man wird es zwar nie schaffen, alle zu erreichen", räumt Sting ein. Trotzdem hält er es für wichtig, auch Angebote zu schaffen, die losgelöst von der ehemaligen Betreuung sind. So könne man eine Anlaufstelle schaffen, die bereits vor der Zeit des Übergangs mit den Jugendlichen Kontakt aufnimmt, um sich bekanntzumachen.

In Kärnten gibt es bereits zwei Anlaufstellen dieser Art für Care-Leaver. Ein richtiger Schritt, glaubt Sting. "Dann haben sie schon gewisse Kontakte, und es ist nicht mehr eine ganz fremde Stelle für sie." Trotzdem findet man solche Projekte bis jetzt nur vereinzelt. "Prinzipiell muss man eigentlich in Österreich für diese Phase des Übergangs aus der Kinder- und Jugendhilfe noch einiges mehr tun", fordert Sting. Care-Leaver seien eine Gruppe von Menschen, die in Österreich gesellschaftlich weitgehend übersehen wird.

Ein Zitat aus der kanadischen Care-Leaver-Forschung bringt es auf den Punkt: "They don't leave care. Care leaves them." Die Jugendlichen verlassen nicht die Betreuung. Die Betreuung verlässt sie. (Ida Emberger, 16.2.2024)