Neandertaler Reenactment mit Speer
Nicht alle Bestandteile von Werkzeugen erhalten sich über Jahrtausende. Ein Forschungsteam stieß beim Sichten alter Funde auf aufschlussreiche Pigmentspuren.
gorodenkoff/Getty Images/iStockphoto

Man nehme Ocker und Bitumen und vermenge die Masse zu einer klebrigen Knete: Fertig ist der erste bekannte Mehrkomponentenkleber Europas. Vor mehr als 40.000 Jahren wurde er im französischen Le Moustier angemischt, einer bekannten Neandertalerfundstätte. Der Klebstoff dürfte gleichzeitig als Griff gedient haben. Ein internationales Forschungsteam produzierte vor kurzem eine Imitation dessen.

Schwarzer zähflüssiger Bitumen auf einer Steinklinge, gehalten von einer Hand mit blauem Plastikhandschuh
Eine wichtige Komponente des Neandertalerklebers: Bitumen.
Patrick Schmidt

Eine Klinge wird in dem Gemisch fixiert, schon ist das Steinwerkzeug mit Griff fertig. Das mag trivial klingen, gilt aber als Beleg für fortgeschrittene Denkleistungen und Werkzeugkulturen. Auch einfachere Klebstoffe wie Baumharz wurden genutzt. Kleber mit mehreren Komponenten gehen nicht nur auf den Neandertaler zurück: In Afrika, wo wohl keine Neandertaler lebten, wurden ähnliche Mischungen noch höheren Alters entdeckt, die vom anatomisch modernen Homo sapiens stammen.

Für die neue Studie, die im Fachmagazin "Science Advances" erschien, untersuchte das Team um Ewa Dutkiewicz und Patrick Schmidt von der Universität Tübingen in Deutschland Fundstücke, die schon 1907 geborgen wurden. Nach ihrer Entdeckung durch den Schweizer Archäologen Otto Hauser landeten sie in einer Berliner Museumssammlung. "Die Sammlungsstücke waren einzeln verpackt und seit den 1960er-Jahren unberührt", erzählt Dutkiewicz. Erst kürzlich stieß man wieder auf sie und erkannte die wertvollen Objekte.

Steinklinge in Ockergriff, gehalten von einer blau behandschuhten Hand
So könnte das Gemisch auch vor 40.000 Jahren zu einem Griff geformt worden sein. Es besteht zu 55 Prozent aus Ocker und ist nicht mehr klebrig.
Patrick Schmidt

Überraschende Mischung

An den fünf Steinwerkzeugen sind nämlich Spuren organischer Stoffe zu erkennen, die sich über die Jahrtausende erstaunlich gut erhalten haben. Bitumen ist ein schwarzes, flüssiges bis festes Gemisch aus Kohlenwasserstoffen, das natürlich im Boden vorkommt. Dort findet man je nach Region auch das Farbpigment Ocker, die Provence ist beispielsweise bekannt für die Ockerfelsen von Roussillon. Das Forschungsteam nimmt an, dass die beiden Bestandteile aus weit voneinander entfernten Orten zusammengetragen wurden, bevor sie am Fundplatz in der Dordogne im Südwesten Frankreichs landeten.

Steinwerkzeug Neandertaler Klinge Pigmentspuren
Die vor mehr als 100 Jahren entdeckten Steinwerkzeuge von Le Moustier weisen orangefarbene Spuren des Ockerklebers auf.
Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Gunther Möller

Das Forschungsteam untersuchte die Klebespuren unter dem Mikroskop. "Wir waren überrascht, dass der Ockeranteil bei mehr als 50 Prozent lag", wird Erstautor Schmidt in einer Aussendung der Uni Tübingen zitiert. In Experimenten hatten er und seine Gruppe festgestellt, dass luftgetrocknetes Bitumen allein bereits als Klebstoff taugt, gibt man aber dermaßen viel Ocker hinzu, ist das Gemisch nicht mehr klebrig.

"Anders war es, als wir flüssiges Bitumen einsetzten, das sich zum Kleben eigentlich gar nicht eignet", sagt der Archäologe. Zusammen mit 55 Prozent Ocker ergebe sich eine formbare Masse. Sie ist klebrig genug, dass man eine Steinklinge darin befestigen kann, aber die Hände bleiben sauber. Das passt zur Verwendung der Masse als Griff. Diese These wird durch mikroskopische Untersuchungen der Gebrauchsspuren gestützt.

Das Gemisch von Bitumen und Ocker unter dem Mikroskop.
Das Gemisch von Bitumen und Ocker unter dem Mikroskop.
Staatliche Museen zu Berlin,Museum für Vor- und Frühgeschichte / Ewa Dutkiewicz

Ähnliche Denkmuster

Weil die Le-Moustier-Höhle bisher Neandertalern zugeordnet wurde, die dort vor 120.000 bis 40.000 Jahren lebten, gehen die Fachleute davon aus, dass die Werkzeuge ebenfalls von diesem Menschentypus stammen. Vor etwa 40.000 Jahren starb der Neandertaler aus, als der moderne Mensch bereits seit ein paar Jahrtausenden in Europa angekommen war. Die Gründe dafür sind unbekannt, womöglich gab es aber im Vergleich zu wenige und kleine Neandertalerpopulationen, die dann quasi im modernen Menschen aufgingen und in heute lebenden Menschen ein bis zwei Prozent ihrer DNA hinterlassen haben.

Flüssiges Bitumen und Ockerpulver vor dem Vermischen.
Flüssiges Bitumen und Ockerpulver vor dem Vermischen.
Patrick Schmidt

Beide Gruppen dürften sich in vielerlei Hinsicht geähnelt und komplexere Werkzeuge mit Klebegriffen hergestellt haben. "Was unsere Studie zeigt, ist, dass sich beim frühen Homo sapiens in Afrika und den Neandertalern in Europa ähnliche Denkmuster widerspiegeln", sagt Schmidt. "Ihre verschiedenen Klebstofftechnologien haben die gleiche Bedeutung für unser Verständnis von der Menschwerdung."

Ganz ausgeschlossen ist nicht, dass die Neandertaler vom modernen Menschen lernten, wie man die Bitumen-Ocker-Mixtur herstellt. Es gibt aber auch weitaus ältere Hinweise auf Neandertalerpopulationen, die Birkenrinde erhitzten, um einen pechschwarzen Allzweckkleber herzustellen. Das Rezept hätten sie sich vermutlich auch selbst ausdenken können. (Julia Sica, 24.2.2024)