Als die ersten Europäer 1722 die Osterinsel im Südostpazifik betraten, fielen ihnen nicht nur die imposanten Moai auf. Merkwürdig war, dass den rund tausend meterhohen Steinstatuen auf der 162 Quadratkilometer großen Insel nur eine vergleichsweise kleine Bevölkerung von höchstens 3.000 Menschen gegenüberstand. Als James Cook 50 Jahre später die Insel besuchte, waren es gar nur mehr 700 Menschen.

Diese Kultur – so die Vermutung – muss einst bedeutend größer gewesen sein, um die vielen steinernen Giganten hervorzubringen. Was man seither über die Geschichte von Rapa Nui (wie die Osterinsel unter den Einheimischen heißt) herausgefunden hat, deckt sich mit dieser Annahme. Wann die Insel erstmals besiedelt wurde, ob es eine oder mehrere Einwanderungswellen gab und woher diese Menschen überhaupt kamen, ist allerdings nach wie vor umstritten. Zurzeit dominiert – zum Teil gestützt von genetischen Analysen – die These, dass Rapa Nui im fünften Jahrhundert von Polynesien aus besiedelt worden ist.

Moai, Osterinsel, Rapa Nui
Rund 1.000 Moai, riesige Steinköpfe mit markanten Gesichtszügen, verteilen sich über die 162 Quadratkilometer große Osterinsel.
Foto: APA/AFP/PABLO COZZAGLIO

Blütezeit und Absturz

Archäologische Funde zeigen, dass Rapa Nui ab dem 12. Jahrhundert eine kulturelle Blütezeit erlebte. Die Bevölkerung wuchs, und die Bautätigkeit nahm zu. Vieles deutet darauf hin, dass diese Entwicklung während des 17. Jahrhunderts jedoch ein jähes Ende fand: Den Rodungen der flächendeckenden Palmenwälder der früheren Jahrhunderte waren Bodenerosion und Einbrüche bei der Nahrungsmittelproduktion gefolgt – viele Menschen starben den Hungertod. In welchem Ausmaß kriegerische Auseinandersetzungen und klimatische Ursachen zum Zusammenbruch beitrugen, ist ungewiss.

Auch über die Kultur und Traditionen der Insulaner während ihrer Hochblüte ist nur wenig bekannt. Ein besonderes Rätsel stellt dabei die Rongorongo-Schrift dar, eine mit Lautzeichen durchsetzte Bilderschrift, die von den Ureinwohnern auf einigen Holztafeln hinterlassen wurden. Eine eigene Schrift ist für die frühen Völker im Pazifikraum einzigartig, doch ob sie tatsächlich von den Insulanern selbst entwickelt oder von den frühen europäischen Besuchern inspiriert wurde, ist bis heute nicht eindeutig geklärt.

Ungewöhnliche Schrift

Bei der Rongorongo-Schrift beginnt man links oben zu lesen. Am rechten Rand wird das Brett um 180 Grad gedreht und der Text verläuft in der nächsten Zeile zurück – wenn man sie denn auch lesen könnte: Die rund einen Zentimeter großen Schriftzeichen sind bisher noch nicht entziffert worden, sie zeigen grafische Symbole, Vogelmänner, Menschen, Tiere, Körperteile; astronomische Symbole und Geräte des täglichen Gebrauchs. Manche Fachleute halten diese Aufzeichnung für eine Art Gedächtnisstütze ohne grammatikalisches System.

Da selbst die ältesten Holztafeln mit Schriftzeichen nachweislich nicht vor 1722 entstanden, gehen einige Expertinnen und Experten davon aus, dass die Ureinwohner auf diesen Tafeln nur europäische Schriftzeugnisse nachgeahmt hätten. Weltweit kennt man 25 bestätigte Rongorongo-Tafeln. Sie sind überwiegend aus Toromiro-Holz geschnitzt, geschrieben beziehungsweise eingraviert wurden die Zeichen mit Obsidian-Splittern, Haizähnen oder eisernen Werkzeugen der Europäer.

Vor den Europäern niedergeschrieben

Nun jedoch haben neuere Analysen einen starken Hinweis darauf geliefert, dass die Rongorongo-Schrift tatsächlich eine eigenständige, von europäischen Einflüssen unabhängige Erfindung der Rapa-Nui-Bewohner ist: Forschende von der Universität Bologna und der Universität Hohenheim (Stuttgart) haben bei vier Holztafeln neuerliche Altersbestimmungen per Radiokarbondatierung durchgeführt. Wie sich dabei herausstellte, stammt eine davon aus einer Zeit deutlich vor der Ankunft der Europäer in den 1720er-Jahren.

Für das Team um Silvia Ferrara und Sahra Talamo (Uni Bologna) sei dies ein Beleg für eine der wenigen unabhängigen Erfindungen der Schrift in der Menschheitsgeschichte. Die vier untersuchten Tafeln stammen aus einem Museum in Rom. Die Wissenschafter entnahmen daraus Holzproben, und der Botaniker Michael Friedrich von der Uni Hohenheim analysierte die Baumarten und bestimmte das individuelle Alter der Hölzer.

Die Schrift dürfte auf der Osterinsel wohl schon vor der Ankunft des niederländischen Seefahrers Jacob Roggeveen am Ostersonntag des Jahres 1722 benutzt worden sein. Zumindest das Alter der Échancrée-Tafel scheint darauf hinzuweisen.
Foto: Università di Bologna

Échancrée-Tafel

Bei der sogenannten Échancrée-Tafel ergab die präzise Radiokohlenstoffdatierung ein Alter weit vor der Ankunft der Europäer. Die übrigen drei sind im 19. Jahrhundert angesiedelt, als die Europäer die Insel schon erreicht hatten. "Die Échancrée-Tafel besteht außerdem aus der Holzart aus der Familie der Steineiben, die auf der Osterinsel nicht heimisch ist", sagte Friedrich. "Es könnte sich daher um Treibholz gehandelt haben, das auf der weitgehend entwaldeten Insel intensiv genutzt wurde."

Daraus ergibt sich freilich auch eine Unsicherheit: Die Datierung der älteren Tafel gibt nicht zwangsläufig Aufschluss über den Zeitpunkt, an dem die Inschrift eingeschnitzt wurde, räumen die italienischen Forschenden ein. Doch der Erhaltungszustand der Tafel weist darauf hin, dass die Beschriftung kurz nach dem Zeitpunkt geschah, als das Holz für die Tafel vorbereitet wurde, erklären die Forscher im Fachjournal "Scientific Reports".

Fremdartige Zeichen

Trotz des noch unklaren Zeitpunktes, wann die Glyphen in die Hölzer eingeschnitzt wurden, verweisen die Ergebnisse nach Ansicht der Wissenschafter auf die große Bedeutung der verwendeten Zeichen: Sie unterscheiden sich von allen bekannten Schriften und weisen auch im Hinblick auf das Inventar keine Parallelen auf. Bei der Entzifferung der Rongorongo-Schrift können die neuen Resultate allerdings auch nicht weiterhelfen, gerade weil es im Südseeraum nichts Vergleichbares gibt.

Nur der systematische Abgleich mit dem Jahreskreis und die Einbeziehung mündlicher Überlieferungen brachten einige wenige Hinweise darauf, was die Texte der Rapa-Nui-Einwohner bedeuten könnten: Einige der Texte könnten demnach Mondkalender sein, andere seriöse Erklärungen reichen von Genealogien bis zu rituellen Gesängen. (tberg, red, 27.2.2024)