Eine Aufnahme aus besseren Zeiten: die SS Nemesis.
Foto: CSIRO

Als die SS Nemesis am 9. Juli 1904 vor der Küste Südaustraliens im Sturm versank, war sie ein vergleichsweise junges Schiff. Der 73 Meter lange Schraubendampfer mit 120 PS lief am 30. Dezember 1880 in der englischen Werft Thomas Turnbull and Son vom Stapel. Sie war von Anfang an für Warentransporte in Australien vorgesehen, schon am 1. Mai 1881 lief die Nemesis nach einer 76-tägigen Reise über die Ozeane in der Port Phillip Bay vor Melbourne ein, wo sie ihren Dienst als Kohleschiff zwischen Newcastle und Melbourne antreten sollte.

Kurze Zeit später jedoch wurde sie zum Passagierschiff umgebaut und pendelte zwischen Melbourne und Sydney. Als dann der Goldrausch ausbrach, brauchte man sie auf der Westaustralien-Route. Nach einem Rückumbau kehrte die Nemesis in den 1890er-Jahren zu ihren alten Kohlefahrten an der Südostküste zurück.

Lage das Unglücksorts vor der südostaustralischen Küste.
Grafik: CSIRO

Unwetter vor Sydney

Auch als sie in Newcastle am 8. Juli 1904 mit 32 Menschen Besatzung (darunter eine Frau) unter dem Kommando von Kapitän Lusher auslief, war sie bis zu den Luken mit Kohle und Koks beladen und lag dementsprechend tief im Wasser. Am 9. Juli verschlechterte sich das Wetter. Südlich von Sydney geriet die Nemesis-Besatzung in schweres Unwetter. Das Schiff wurde zuletzt vor der Küste von Wollongong von der Besatzung eines anderen Schiffs gesichtet, das ebenfalls in Seenot geraten war. Eine Notrakete, die man von kurz danach von Port Hacking aus gesehen hatte, dürfte das letzte Lebenszeichen der Nemesis-Besatzung gewesen sein.

In den Tagen nach dem Sturm wurden zahlreiche Leichen und einige Wrackteile am Cronulla Beach fast 30 Kilometer südlich von Sydney angeschwemmt. Man fand Fragmente des Steuerrads, einige Türen und Plankenteile – wo aber des Rest des Schiffs lag, wusste niemand. Das Unglück mit 32 Toten und Vermissten löste großes Medienecho aus, das öffentliche Interesse drängte auf eine Suche nach dem Wrack und den verschollenen Seefahrern, doch auch diese Bemühungen blieben letztlich vergebens.

Viele Strukturen blieben intakt, vor allem Bug und Heck aber waren in Mitleidenschaft gezogen worden.
Foto: CSIRO

Zufallsfund

Ein unerwarteter Glückfall setzte nun einen Schlusspunkt hinter das 120 Jahre alte Rätsel: Im Jahr 2022 suchte ein Schiff der Subsea Professional Marine Services mit Sonargeräten nach Frachtcontainern, die zuvor vor der Küste Sydneys verloren gegangen waren. Statt auf Container stießen die Mitarbeiter des Erkundungsunternehmens jedoch auf dem Meeresgrund auf die markanten Umrisse eines großen Schiffes. Das gut erhaltene Wrack lag etwa 28 Kilometer vor der Küste nahe Wollongong in 160 Metern Tiefe.

Der Anker der SS Nemesis.
Foto: CSIRO

Der Fund rief Expertinnen und Experten der Denkmalschutzbehörde von New South Wales (NSW Heritage) auf den Plan, die Vermutung lag nahe, dass man hier die lange verschollene Nemesis vor sich haben könnte. Eine einwandfreie Identifizierung des Schiffes war jedoch keineswegs so einfach zu bewerkstelligen, zumal das Wrack weit vor der Küste und in tiefen Gewässern mit starken Strömungen lag. Die bestätigenden Daten wurden schließlich von einem Team der australischen Wissenschaftsbehörde CSIRO an Bord der RV Investigator gesammelt.

Detaillierte Scans

Das Forschungsschiff konnte während einer Transitfahrt von Hobart nach Sydney im September 2023 eine detaillierte Kartierung des Meeresbodens und eine Kamerauntersuchung des Wracks durchführen. Die Forschenden nutzten moderne Echolotsysteme, um das Wrack und den umliegenden Meeresboden zunächst in hoher Auflösung zu scannen. Vor allem die anschließende systematische Untersuchung des gesamten Wracks mit einem speziellen Unterwasserkamerasystem brachte die nötige Klarheit.

Hochauflösende Scans, wie hier im Bild, und Unterwasseraufnahmen enthüllten die Identität des Schiffes.
Grafik: CSIRO

Ein Vergleich der Aufnahmen mit historischen Fotos, Skizzen und Plänen bestätigte, dass es sich bei dem Überresten tatsächlich um die Nemesis handelte. Die Bilder zeigen, dass das eiserne Schiff bei seinem Untergang erhebliche Schäden erlitten hatte. "Das Wrack befindet sich am Rande des Kontinentalschelfs und liegt aufrecht auf dem Meeresboden, weist aber sowohl am Bug als auch am Heck schwere Schäden auf", sagte Phil Vandenbossche, Vermessungsingenieur des CSIRO.

Die Inspektion des Wracks mit der Drop-Kamera hat aber auch gezeigt, dass einige wichtige Strukturen noch intakt und identifizierbar sind, darunter zwei der Schiffsanker. Als Nächstes wollen die Wissenschafter die gesammelten Daten, Bilder und Videos zu einem 3D-Modell der Nemesis zusammenfügen. Die virtuelle Erfassung ihres derzeitigen Zustands soll dabei helfen, etwas über die letzten Stunden der Besatzung zu erfahren.

Video: Aufnahmen des Wracks der SS Nemesis.
CSIRO

Was ist passiert?

So viel aber kann man jetzt schon vermuten: Die katastrophalen Schäden an Bug und Heck, die man auf den Unterwasseraufnahmen erkennen konnte, deuten nach Ansicht der Fachleute auf sehr schweren Seegang hin. Wahrscheinlich wurde das Schiff von einer großen Welle getroffen, die den Ausfall der Dampfmaschine zur Folge hatte. Die Nemesis sank offenbar so schnell, dass keine Zeit mehr blieb, Rettungsboote ins Wasser zu lassen.

Die Tragödie der SS Nemesis wirkt bis heute nach, immerhin leben noch einige Nachkommen der Getöteten in der Region – weshalb diese Entdeckung umso wichtiger sei, betonen die Forschenden. Die Behörden von New South Wales baten im Zuge der neuen Erkenntnisse Familien sich zu melden, die Vorfahren bei dem Schiffsunglück verloren haben. Für die Nachfahren der Verunglückten könnte dies auch nach so langer Zeit ein ersehnter Abschluss sein, meinte das Team. (Thomas Bergmayr, 28.2.2024)