Wetterhexe auf einem Hausdach.
Der Umgang mit Hexen zeigt immer auch, woher der gesellschaftliche Wind weht.
IMAGO/Rene Traut

Die Marmorstatue einer breitbeinig dasitzenden nackten Frau mit frechem Blick und offenem Haar, die als Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht im Wien-Museum zu bestaunen ist, wurde von der jüdischen Bildhauerin Teresa Feodorowna Ries gefertigt. Zur Präsentation 1896 war dieser Gegenentwurf zum männlichen Blick auf den weiblichen Körper eine Sensation.

Die Statue verschwand mit der Machtübernahme der Nazis für Jahrzehnte in einem Depot. Ihre Wiederentdeckung passt zur gegenwärtigen Stimmung, in der Frauen sich als Hexen bezeichnen, um auf den zunehmenden Druck des religiösen Fundamentalismus und politisch instrumentalisierte Misogynie zu reagieren, indem sie das einstige Feindbild zum Ideal erklären. Oder handelt es sich dabei eher um Eskapismus und Geschäftemacherei?

Teresa Fedorowna Ries’ "Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht".

Abläufe und Interessen im Fokus

Stets wurden über Jahrhunderte und Kontinente vor allem Menschen der Hexerei beschuldigt, die weiblich, von Armut betroffen, behindert oder krank waren; indigene Personen im Konflikt mit der Kolonialmacht; Menschen, die sich sexuell abweichend verhielten oder als politisch subversiv galten. Allen wurden Kräfte und Praktiken zugeschrieben, welche offiziell nicht anerkannt waren.

In Hexen: Eine Weltgeschichte der Hexenverfolgung in 13 Prozessen vom Mittelalter bis heute zeichnet die Literaturhistorikerin Marion Gibson dies nach und betont die entscheidende Rolle medialer Verbreitung von Hexenglauben darin. Anstatt sich mit einer Typologie vermeintlich magischer Methoden und deren Überprüfung aufzuhalten, konzentriert sich Gibson auf Strukturen, welche die Abläufe von Projektion, Anschuldigung, Verurteilung in Gang setzten, und fragt, wessen Interessen derartige Prozesse letztlich dienten.

Gibson setzt 1485 mit dem Innsbrucker Verfahren gegen Helena Scheuberin ein, das scheiterte, da die Angeklagte eine gebildete, angesehene Bürgerin und wohlhabend genug war, um sich vor Gericht durch einen Anwalt vertreten zu lassen, der seinerseits den selbsternannten Hexenjäger Heinrich Kramer wegen unrechtmäßigen Verhaltens verklagte.

Buchcover
Ein Standardwerk über die Hexenverfolgung und ihre sozialen Hintergründe. Marion Gibson, "Hexen: Eine Weltgeschichte der Hexenverfolgung in 13 Prozessen vom Mittelalter bis heute". € 28,80 / 465 Seiten. Aufbau, Berlin 2024.
aufbau

Enzyklopädie des Frauenhasses

Der Prozess wurde beendet, Kramer musste Innsbruck verlassen und rächte sich mit einer Publikation, die schrecklichen Schaden anrichten sollte: dem Hexenhammer, einer Enzyklopädie der Hexerei, Lehrbuch für von Frauenhass getriebene Verfolger. Mit dieser Schrift und ähnlichen Traktaten, welche sich rasch verbreiteten, hatten die Eliten Instrumente in der Hand, um ihr Volk zu disziplinieren. Die schriftlich festgelegten Fantasien lieferten Machthabern Anweisungen zur Suche nach Opfern und für die Inszenierung von Prozessen, um Untertanen in unsicheren Zeiten wieder gefügig zu machen.

Auch am Beispiel des Hexenprozesses im schottischen North Berwick beschreibt Gibson soziopolitische Vorgänge rund um die Gerichtsverfahren. Hier waren es die Ängste von König Karl VI., die auf vermeintliche Verursacherinnen projiziert wurden. Er sah sich als Opfer hunderter Hexen, die ihn vom Thron stürzen wollten. So hieß es in der Anklage, Hexen seien für die heftigen Stürme verantwortlich, die seinen Schiffen schadeten, weil sie Dämonen in Fässern aufs Meer schickten, um diese zu zerstören. Der König selbst übernahm die Hoheit über den Prozess und verfasste seine eigene Dämonologie.

Gegenwehr

Der schottische Hexenglauben und die Möglichkeit, Sündenböckinnen gerichtlich zu verfolgen, wurden in der Folge von Siedlungsbewegungen in den skandinavischen Norden exportiert. Die indigenen Sami, nomadische Hirten, schienen besonders gefährdet, zum Opfer des Vorwurfs der Hexerei zu werden, weil sie nicht sesshaft waren, von und mit Tieren lebten, eine eigene Sprache hatten und Schamanismus betrieben.

Die erste angeklagte Hexe war demnach eine Sami, die noch nach ihrer Verurteilung gefoltert wurde, um Namen vermeintlicher Komplizinnen preiszugeben. Sie wurden alle verbrannt. Da sowohl die Norweger als auch die Sami daran glaubten, dass Sturmwinde erzeugt, verkauft und erworben werden konnten, wurden Hexen verantwortlich für ein großes Schiffsunglück zu Weihnachten 1617 mit zahlreichen Todesopfern gemacht. Lokale, volkstümliche Vorstellungen von Hexerei verbanden sich in diesen Anklagen mit importierten Ideen über böse Geister.

Das Lauffeuer griff auch auf den amerikanischen Kontinent über. 1692/93 kam es zu den wohl berühmtesten Hexenprozessen in Salem, Massachusetts. Gibson berichtet über die Verschleppung und Versklavung Tatabes, einer wahrscheinlich aus Venezuela stammenden indigenen Frau, die nach Barbados kam und in Besitz eines Puritaners geriet. Als dieser später als Pfarrer von der Insel nach Salem berufen wurde, musste sie ihm folgen und dort den Haushalt führen. Salem war von Konflikten mit indigenen Bevölkerungsgruppen geplagt, und als mehrere Frauen im Pfarrhaus erkrankten, fiel der Verdacht auf die Fremde. Immer mehr Menschen fühlten sich verhext, immer mehr Frauen wurden beschuldigt. Folter half, die erwünschten Geständnisse zu erzielen.

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Hexenverfolgung versus Wissenschaft. Ein Sachbuch über Keplers Kampf um seine Mutter. Ulinka Rublack, "Der Astronom und die Hexe. Johannes Kepler und seine Zeit". Aus dem Englischen von Hainer Kober. € 12,40 / 468 Seiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2020.
Klett-Cotta

Entschädigung der Hinterbliebenen

Mitte des Jahres 1693 warteten bereits mehr als 200 Angeklagte in Gefängnissen auf ihre Prozesse, sodass das Gericht diese nicht mehr bewältigen konnte. Es kam zu Protesten. Daraufhin behandelte man die Anklagen als Justizirrtum, und die verbliebenen Beschuldigten wurden entlassen. Eine Gegenwehr der Zivilgesellschaft brachte die an der Hexenjagd Beteiligten zur Vernunft. Die Hinterbliebenen der Hingerichteten wurden vom Staat sogar entschädigt.

Erst im Zeitalter der Aufklärung wurde der Glaube an Hexerei – zumindest von den gebildeten Eliten – weitgehend aufgegeben. Im 19. Jahrhundert schließlich setzte eine zunehmende Romantisierung der Figur der Hexe ein, der althergebrachtes Wissen um Heilkräfte zugesprochen wurde. Hexen galten gar als Kämpferinnen für die Befreiung der Frauen. Im Volksglauben blieb sie jedoch als Figur der hässlichen Alten erhalten.

Die juristische Auseinandersetzung mit Menschen, denen unerklärbare Phänomene zugeschrieben wurden, konzentrierte sich nun weniger auf Vergehen gegen religiöse Vorstellungen, sondern auf Betrug, wie das Beispiel Nelly Duncans zeigt, eines spiritistischen Mediums, das in den 1940er-Jahren begann aktiv zu werden. Frauen wie sie behaupteten, "sie könnten den gesamten Körper von Geistern materialisieren, indem sie eine Art von weißem Schaum, der ‚Ektoplasma‘ genannt wurde, absonderten, der die Gestalt des Verstorbenen annehmen konnte", schreibt Gibson.

Weltlich oder religiös

Duncans Familie profitierte von Geschäften mit der Trauer von Hinterbliebenen. Damals war noch das 1735 erlassene Gesetz gegen Hexerei in Kraft, das auf religiösen Voraussetzungen beruhte, die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr bindend waren. Immer war die Etablierung von Hexenprozessen auch bestimmt von der Frage nach Jurisdiktion. Ob nun ein weltliches oder ein religiöses Gericht für Verhandlungen zuständig war, unterschied sich von Mal zu Mal.

Ohne allgemein anerkannte rechtssprechende Institution aber konnte es keine Verurteilung geben. So wurde das alte Hexereigesetz in Großbritannien schließlich 1951 durch ein Gesetz abgelöst, das sich dagegen richtete, angeblich magische Fähigkeiten in betrügerischer Absicht einzusetzen.

Damit endete die Geschichte der Hexenprozesse leider nicht, denn das Prinzip war mit den Glaubensgrundsätzen der Kolonisatoren längst auf andere Kontinente übertragen worden, wo sie genauso der Durchsetzung von machtpolitischen Interessen dienten. Bis heute werden Frauen und vermehrt sogar Kinder in einigen afrikanischen Ländern der Hexerei bezichtigt. Zudem wird durch die Produktion von Hexenfilmen in den Studios von Nollywood der Glauben daran bestärkt oder überhaupt erst hervorgerufen, wie nigerianische Forscherinnen herausfanden.

Absurde Anschuldigungen, unsicheren Zeiten

Die Zunahme von rechten, rückwärtsgewandten Ideologien bedroht die Selbstbestimmung von Frauen weltweit, wie das Beispiel des Rechts auf Abtreibung, das in den USA gekippt wurde, zeigt. Die Dystopie von Margret Atwoods The Handmaid’s Tale, in der Frauen ausschließlich nach ihrer Fertilität bewertet werden, scheint plötzlich nicht mehr weit entfernt. Kriege und Konflikte werden weiterhin über weibliche Körper ausgetragen.

So ist es kein Zufall, dass Hexen neuerlich Thema sind, wie etwa in der Studie der Historikerin Ulinka Rublack über den Astronomen Johannes Kepler und seine Mutter, die 1615 in Baden-Württemberg angeklagt wurde. Ihr Verbrechen war, dass sie als verwitwete Analphabetin ihr Leben gut im Griff und ein höheres Alter erreicht hatte als der Durchschnitt. Zum Zeitpunkt des Prozesses war sie bereits 68. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Auch hier verbanden sich absurde Anschuldigungen mit unsicheren Zeiten, unter denen alle litten: Der Winter war hart, die Teuerung immens, der Stadtvogt brauchte einen Grund, um die Bevölkerung zu befrieden. Also konzentrierte sich die Anklage auf Katharinas Wissen um Kräuter; Nachbarinnen behaupteten außerdem, allein durch eine Berührung mit ihr krank geworden zu sein. Kepler kämpfte sechs Jahre, um seine Mutter vor dem Tod zu bewahren.

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Ein Roman über den Hexenprozess gegen die Mutter des Astronomen Johannes Kepler. Rivka Galchen, "Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist". Aus dem Englischen von Grete Osterwald. € 24,70 / 320 Seiten. Rowohlt, Hamburg 2024
Rowohlt

Weibliche Handlungsmacht

Es gehe darum, wie viel Handlungsmacht Frauen hatten und heute haben, betont die amerikanische Autorin Rivka Galchen, die gerade einen Roman über Katharina Kepler, Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist, veröffentlichte, in dem die Angeklagte selbstbewusst ihre Einschätzung der Ereignisse einem Schreiber in die Feder diktiert. Die emotionale Entlastung, welche durch die Erlaubnis zur Denunziation möglich wird, dominiert jegliche Vernunft und verhindert eine klare Einschätzung von Fakten.

Das zeigt auch der eher konventionell erzählte Roman Die Hexen von Cleftwater von Margaret Meyer. Sie stellt eine stumme, kräuterkundige Hebamme im England des 17. Jahrhundertsins Zentrum, deren Nachbarinnen allmählich und völlig wahllos der Hexerei bezichtigt werden. Martha wird gezwungen, als "Sucherin" die Körper der Beschuldigten auf Zeichen zu prüfen, die ihr Kontakt mit dem Teufel hinterlassen haben. Die ältere, ledige Frau, aufgrund ihrer Stummheit stets Außenseiterin, gerät damit in Glaubenskonflikte, bis sie selbst angeklagt wird.

Einfache Lösungen

Über die Jahrhunderte zeigt sich, dass wann immer Lebenswirklichkeiten unübersichtlicher wurden, Menschen nach einfachen Lösungen strebten, sich dem Okkulten zuwandten und verstärkt zu Verschwörungstheorien neigten. Das war auch während der Pandemiejahre ersichtlich und wurde seitdem im Zuge zusätzlicher Krisen noch deutlicher.

Die sozialen Medien dienen hierbei als Verstärker und Beschleuniger, um Sündenböcke zu benennen und digitale Tribunale zu veranstalten. Gleichzeitig wurde es attraktiv, sich als Opfer von Hexenjagden zu bezeichnen, wann immer Konflikte auftraten. Prominentester Vertreter ist bis heute Donald Trump, dessen inflationärer Gebrauch von "witchhunt" die Bedeutung des Begriffs nahezu völlig entleerte.

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In diesem Roman gerät eine stumme Hebamme 1645 ins Visier eines Hexenjägers. Margaret Meyer, "Die Hexen von Cleftwater". Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. € 25,70 / 350 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, München 2024.
C.H. Beck

Sehnsucht nach Überirdischem

Hexen und Hexer bevölkern derzeit vermehrt Fantasy-Publikationen und -Serien, magische Praktiken werden aus Handbüchern erlernt, Zauber-Emojis sollen bei kleinen Problemen des Alltags helfen. Nicht zu vergessen, dass Millionen von Harry Potter-Leserinnen weltweit mit einer Faszination für magische Fähigkeiten aufwuchsen. Die Sehnsucht nach außergewöhnlichen Kräften vermengt sich via soziale Medien mit Selbstfürsorge und Selbstdarstellung jeglicher Art.

Sich als Hexe zu definieren gilt als ultimativer und gar feministischer Widerstand gegen eine zunehmend komplexe Realität. Zudem haben sich die Images, welche selbst ernannte Hexen von sich präsentieren, vervielfältigt. Eine ausführliche Fotostrecke im New Yorker zeigt Frauen aller Altersgruppen, meist in Schwarz, manche ganz in Weiß gekleidet, mit grauem oder gefärbtem Haar, von Tieren wie Vögeln, Katzen, Schlangen begleitet, mit Fäden, Pflanzen, Stöcken hantierend, vorzugsweise barfuß und im Freien.

Jagd nach (Ver-)Folgern

Ihr Hexenstatus ermöglicht die Vermengung verschiedener religiöser und kultureller Herkünfte, hilft, sie zu feiern und nicht zu verdammen, wie von Missionaren und Kolonisatoren jahrhundertelang praktiziert, um sich Menschen zu unterwerfen, deren Territorien und Reichtümer einzuverleiben. Hinzu kommt ein wiederentdecktes Interesse an Astrologie, Tarot und anderen Techniken der Weissagung.

Die todbringende Verfolgung solcher Praktiken wurde so durch eine Jagd nach möglichst vielen (Ver-)Folgern abgelöst. Und Hexerei ist auch Geschäft mit Ölen, Hölzern, Essenzen, Schriften, Onlinekonsultationen etc. Followerzahlen und Umsätze werten den Hexenstatus finanziell auf. "Statt Scheiterhaufen winkt der Werbedeal", fasste kürzlich ein Zeitungsartikel treffend zusammen. Und als Ablenkung von Nachrichten über traumatisierte Vergewaltigungsopfer in der Ukraine oder Berichten über zerstückelte Körper junger Frauen, die von der Hamas als Trophäen präsentiert wurden, dient die Konzentration auf den ganzen Zauber allemal. (Sabine Scholl, 1.3.2024)