Die Ausgangslage lässt sich in nüchternen Zahlen auf den Punkt bringen: Nach Angaben der EU-Kommission leiden in der EU bis zu 36 Millionen Menschen an einer von mehr als 6000 bekannten seltenen Krankheiten. Für 95 Prozent davon gibt es derzeit keine Therapie. Hinter den nackten Zahlen stehen freilich Menschen, die oft von klein auf leiden müssen. Seltene Krankheiten sind per definitionem meist erbliche, oft chronische, mit einem schweren Verlauf einhergehende komplexe Erkrankungen. Ungefähr 80 Prozent davon haben eine genetische Ursache, 70 Prozent beginnen bereits in der Kindheit.
Zeit ist ein Kernproblem. Schon die Diagnose für eine seltene Krankheit kann bis zu fünf Jahre dauern, hieß es bei der vom Pharmaunternehmen AOP Orphan Pharmaceuticals (AOP Health) in Kooperation mit DER STANDARD organisierten Diskussionsveranstaltung vergangene Woche in Wien. Irene Lang, Spezialistin für Lungengefäßerkrankungen an der Medizinischen Universität Wien, erachtet die Sensibilisierung von niedergelassenen Ärzten als entscheidenden Faktor, um diese Zeit zu verkürzen: "Das ist ein Aufruf an die praktizierenden Ärzte, sich mit den Expertisezentren zu verbünden."
Von der Idee zur Zulassung
Solche spezialisierten Zentren sind seit 2017 in Europäischen Referenznetzwerken (ERN) zusammengeschlossen, um bestehende Expertise und Ressourcen möglichst ökonomisch zu nutzen. Zum einen gebe es in diesen Zentren Spezialisten, die täglich mit Patienten zu tun und daher viel Erfahrung in der Diagnose und Therapie haben. Zum anderen würden sie über die notwendige diagnostische und therapeutische Infrastruktur verfügen, sagte Lang.
Noch deutlich länger als die Diagnostik, nämlich gut ein Jahrzehnt, dauert der Weg für ein neues Arzneimittel von der Grundlagenforschung über die klinische Entwicklung bis zur Zulassung. "Zehn Jahre Entwicklungszeit bedeuten, dass die Idee, die man hatte, bereits zehn Jahre alt ist, sobald ein neues Medikament zugelassen wird", gab AOP-Health-CEO Martin Steinhart zu bedenken. Eine zentrale Frage sei also, wie man die Entwicklungszyklen beschleunigen könnte, um neue Medikamente früher für Patienten verfügbar zu machen.
Herausfordernde Bedingungen für Forschung
"Die Forschung an seltenen Krankheiten ist komplexer und dauert länger, hat aber vielfach die gleichen Standards wie die normale Medikamentenentwicklung", hielt Steinhart fest. Erschwerend komme die naturgemäß geringe Anzahl von Patienten für klinische Studien hinzu: "Man braucht genügend Patienten, um die Effizienz und Verträglichkeit zu testen. Und das ist die größte Herausforderung, sie zu finden und zu überzeugen, an einer klinischen Studie teilzunehmen."
Diese Aufgabe gestalte sich auch deshalb anspruchsvoll, weil für die Beurteilung einer neuen Behandlung umfangreiche Patientengruppen erforderlich sind.
"Wir versuchen Studiendesigns zu entwickeln, die sich erstens auf den Patienten konzentrieren, zweitens auf die regulatorischen Anforderungen und drittens auf die Frage, wie wir dieses Medikament später verkaufen können", sagte Bianca Tan, Therapeutic Area Director Cardiology and Pulmonology bei AOP Health. Gleichzeitig bestehe der politische Wunsch nach immer billigeren Behandlungen und Generika, was es für die Industrie nicht leicht mache, neue Medikamente zu entwickeln.
Bindeglied zu Patienten
Gerade bei seltenen Krankheiten spielen Patientenorganisationen als Bindeglied zwischen Forschung, Ärzteschaft sowie Patienten und Angehörigen eine wichtige Rolle. Allerdings fühlen sich diese nicht ausreichend ernst genommen, konstatierte Claas Röhl, Obmann und Gründer der Patientenorganisation NF Kinder und Vorstandsmitglied von Pro Rare Austria: "Wir können einen sehr paternalistischen Ansatz erkennen, bei dem Entscheidungen für die Patienten und nicht mit ihnen getroffen werden."
Um mit Forschungseinrichtungen auf Augenhöhe zu kommunizieren, brauche es mehr spezifisch ausgebildete Patientenvertreter, sagte Röhl. Auf europäischer Ebene sind etwa im Projekt European Patients Academy on Therapeutic Innovations (EUPATI) mehrere Hundert Expertinnen und Experten geschult worden. Röhl fordert bessere Ausbildungsmöglichkeiten auch für Österreich. Ein eigens entwickelter akademischer Kurs über drei Semester scheitere derzeit an mangelnder finanzieller Unterstützung durch die öffentliche Hand.
Das Problem der Unterfinanzierung zieht sich durch, wie der Vater einer an Neurofibromatose erkrankten Tochter betonte: "Die Zentren für seltene Krankheiten, die vom österreichischen Gesundheitsministerium benannt wurden, erhalten keinen einzigen Cent an Fördermitteln." Schon aus volkswirtschaftlichen Gründen sei es angesichts 400.000 betroffener Menschen, die oft pflegebedürftig werden, kontraproduktiv, nicht mehr Geld zu investieren, sagte Röhl: "Die Regierung tritt leider auf die Bremse, wenn es um die Erforschung seltener Krankheiten geht, und das muss sich so schnell wie möglich ändern." (Mario Wasserfaller, 5.3.2024)