Urmensch bearbeitet Steinwerkzeuge
Die Neudatierung der ukrainischen Funde liefert Hinweise darauf, wie Urmenschen vor 1,4 Millionen Jahren in Europa lebten.
Getty Images/iStockphoto

Auf dem gleichen Breitengrad wie Wien, knapp 600 Kilometer weiter östlich, liegt die ukrainische Ortschaft Korolevo. Sie hat etwa 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner und liegt an der Theiß, dem längsten Nebenfluss der Donau, unweit der Grenzen zu Rumänien und Ungarn. Wer zu Besuch kommt, besichtigt vielleicht die alte Schlossruine, doch in einem nahegelegenen Steinbruch befindet sich eine der wichtigsten Fundstätten für prähistorische Artefakte. Einer neuen Studie zufolge wurden hier sogar die ältesten Spuren von Frühmenschen in Europa gefunden.

Lange gab es keine sicheren Datierungsmöglichkeiten. Man schätzte das Alter der Steinwerkzeuge grob auf etwa eine Million Jahre. Doch nun zeigen Erstautor Roman Garba von der tschechischen Akademie der Wissenschaften und sein internationales Forschungsteam im renommierten Fachjournal "Nature", dass die Artefakte etwa 1,4 Millionen Jahre alt sein dürften. Damit handelt es sich um die ältesten sicher datierten Funde menschlicher Urahnen, die bisher in Europa gefunden wurden, erzählt Garba im STANDARD-Gespräch. Skelettreste gibt es dort keine, doch die bearbeiteten Steine stammen wohl von Homo erectus, der einzigen bisher bekannten Menschenspezies, die zu dieser Zeit auch außerhalb von Afrika lebte.

Panoramaansicht über Geländeterrassen eines Steinbruchs und Wasser
So sieht es an den Fundstätten von Korolevo im Steinbruch aus.
Roman Garba

Bisher galten Funde aus Spanien und Südfrankreich als Rekordhalter. Aktuelle Datierungen zufolge sind diese menschlichen Spuren aus der "Elefantengrube" und der Vallonnet-Grotte aber 1,1 bis 1,2 Millionen Jahre alt. Damit sind sie wahrscheinlich jünger als die Artefakte aus Korolevo. "Korolevo repräsentiert unseres Wissens nach die früheste Anwesenheit von Homininen in Europa, die sicher datiert ist", schreibt die Forschungsgruppe. Außerdem sei dies ein Indiz dafür, dass Europa über den Osten oder Südosten von Homo erectus bevölkert wurde, über Georgien oder die Türkei, wie andere Funde vermuten lassen.

Migration des "aufrecht gehenden Menschen"

Damit wird nicht nur eine Wissenslücke in der Migrationsgeschichte des Menschen geschlossen, sondern auch geografische und zeitliche Lücken. Zwischen der auf 1,8 Millionen Jahre datierten Fundstätte von Dmanisi in Georgien und den rund 1,1 Millionen Jahre alten spanischen Fossilien gibt es bisher laut Garba keine verlässlich datierten Funde aus Europa und den Randregionen.

Karte aus der Studie
In den blau markierten Migrationswellen könnte der Homo erectus nach Europa gekommen sein. Der rote Punkt markiert die Fundstätte Korolevo.
Garba et al., Nature 2024

Auch die Art, wie die Steine von Korolevo bearbeitet wurden, ähnelt Werkzeugen aus Dmanisi und Jordanien. "Diese Werkzeuge sind wie eine Sprache", sagt der tschechische Wissenschafter. Ihre Bearbeitungsweise sei analog zur Sprechweise an Nachkommen weitergegeben worden. Das bekräftigt die Hypothese der Einwanderung aus dem Osten, die von Fachleuten als wahrscheinlich betrachtet wird. Denn im Westen wäre es sehr schwierig gewesen, über die Straße von Gibraltar von Afrika auf die Iberische Halbinsel zu gelangen. Die Strömung dürfte zu stark gewesen sein, es gebe auch keine Hinweise darauf, dass Tiere diese potenzielle Route nutzen konnten.

Steinwerkzeuge
Eine Auswahl der Steinwerkzeuge, die 1,4 Millionen Jahre alt sein dürften.
Garba et al., Nature 2024

Die Funde von Korolevo lassen darauf schließen, dass Homo erectus vor 1,4 Millionen Jahren in der heutigen Westukraine sehr einfache Steinwerkzeuge zum Schneiden nutzen konnte. Obwohl sie alles andere als ausgefeilt sind, sei aber klar, dass sie von Menschen geschaffen wurden und nicht etwa durch bloßes Herabfallen, betont Garba. Aus dem Homo erectus ging im Laufe von hunderttausenden Jahren der Neandertaler hervor. Parallel dazu entwickelte sich der moderne Mensch in Afrika, der sich ebenfalls nach Europa ausbreitete und dort teils mit dem Neandertaler vermischte, diesen aber wohl doch verdrängte, sodass Neandertaler heute als ausgestorben gelten.

Fundstätte aus Sowjetzeiten

Die Fundstätte in der Westukraine ist keine Neuentdeckung. Schon 1974 stieß man hier auf die ersten prähistorischen Spuren, zu Sowjetzeiten gab es jährliche Grabungen. Im archäologischen Museum von Kiew lagern etwa 90.000 Fragmente von Steinwerkzeugen, die dort geborgen wurden. Es sind so viele Fundstücke, dass nur ein Viertel davon bisher genauer untersucht wurde. Das Interesse westlicher Forscherinnen und Forscher war bisher eher gering, sagt Roman Garba – was auch daran liegen dürfte, dass die zugehörigen Studien vor allem auf Russisch veröffentlicht wurden.

Transcarpathian Palaeolithic Expedition Schwarzweißfoto von Grabungen
Archivfoto der Transcarpathian Palaeolithic Expedition aus den 1980er-Jahren. Schon in den 1970er-Jahren wurde die Fundstätte von Korolevo entdeckt.
Institute of Archaeology of the Ukrainian Academy of Sciences

Das könnte die neue Studie ändern. Mit Kolleginnen und Kollegen – unter anderem von der Universität Wien – läuft derzeit eine Bewerbung für die hochdotierten ERC-Synergy-Grants der Europäischen Union, der bei weiteren Ausgrabungen und Analysen helfen würde, sagt Garba. Er arbeitet mit einer Datierungsmethode, die sich sogenannte kosmogene Nuklide zunutze macht. Wie das in etwa funktioniert, lässt sich mit dem Aufladen eines Handys vergleichen, sagt der Archäologe und Ingenieur – stark vereinfacht natürlich: "Die Erde wird Tag und Nacht mit kosmischer Strahlung aus dem All bombardiert, die auch Steine auf der Erdoberfläche beeinflusst. Man kann sich das vorstellen, als würden sie 'aufgeladen' werden, wie der Akku eines Smartphones, bis sie bei 100 Prozent ankommen und gesättigt sind." Diese Veränderungen interessieren Garba bei den chemischen Elementen Aluminium und Beryllium, die sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit "aufladen".

Selfie Roman Garba Fundstätte
Ein Selfie des Erstautors der Studie, Roman Garba, an der Grabungsstätte in der Westukraine.
Roman Garba

Wenn die Steine nun von Sedimenten bedeckt werden und nicht mehr der kosmischen Strahlung ausgesetzt sind, stoppt der "Ladeprozess". Durch radioaktiven Zerfall entlädt sich das Gestein quasi wieder. "Bei Aluminium sinkt der 'Akkustand' doppelt so schnell", setzt Garba den Vergleich fort. Weil sich so das Verhältnis der Elemente verändert, kann man rechnerisch darauf schließen, wie lange eine Probe schon unter der Erde liegt.

Grabungen und Ukrainekrieg

Um für die neue Studie das Alter der Schichten zu berechnen, in der die Steinwerkzeuge lagen, kamen erstmals neue, komplexe mathematische Modelle eines dänischen Forschungsteams zum Einsatz. Sie liefern präzise und robuste Ergebnisse mit einem geringen Grad an Unsicherheit – eine Methode, die Garba in Zukunft weiter anwenden will. Das aktuelle Projekt begann 2020, vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zweimal hat der Forscher seitdem die Fundstätte im Westen des Landes besucht, zuletzt im Sommer 2023. "Wenn dieser sinnlose Krieg zu Ende geht, können wir hoffentlich wieder anfangen zu graben und die Fundstätte zu schützen."

Dann würde die Gegend vielleicht eine ähnliche Anziehungskraft auf Archäologinnen und Archäologen ausüben, wie sie vor 1,4 Millionen Jahren Frühmenschen anzog. Korolevo liegt für Homo-erectus-Verhältnisse überraschend weit im Norden. Pollenanalysen lassen jedoch darauf schließen, dass es im Laufe der vergangenen zwei Millionen Jahre hier immer wieder warm genug war, sodass er gut überleben konnte. Nicht nur der nahegelegene Fluss bot gute Lebensbedingungen, sondern auch das vulkanische Gestein, das mit Obsidian vergleichbar ist, sagt Garba: "Die Menschen damals wurden wie magnetisch von diesem Gestein angezogen, das sich sehr gut für Steinwerkzeuge eignete." (Julia Sica, 6.3.2024)