Ein neuer globaler Wettlauf um den Weltraum ist entbrannt. Weltweit entwerfen kommerzielle und staatliche Akteure ambitionierte Visionen für die Zukunft der Menschheit mit dem und langfristig auch im Weltraum. Dabei spielen Ressourcenabbau und geostrategische Überlegungen eine zentrale Rolle. Auch Europa steht aktuell an der Schwelle zur Entscheidung, welche Rolle es in diesem neuen Weltraumzeitalter spielen kann und will.
Im Gegensatz zu den USA oder der ehemaligen Sowjetunion kam der Raumfahrt in Europa jahrzehntelang keine Vorreiterrolle zu. Vielmehr fehlte es den staatlich finanzierten Vorzeigeprojekten wie dem Ariane-Raketenprogramm, der Rosetta-Mission zur Erforschung des Ursprungs des Sonnensystems oder der Galileo-Satellitennavigationssystem – obwohl international bekannt – lange Zeit an politischem Gewicht und Interesse außerhalb des Raumfahrtsektors.
Die Rolle der Raumfahrt für die Positionierung Europas in globalen Machtkonstellationen hat sich in letzter Zeit jedoch deutlich verändert; ein neuer Wettlauf um den Weltraum und dessen geostrategische Nutzung ist in vollem Gange. Sogenannte New-Space-Unternehmen wie Space X streben die wirtschaftliche Nutzung des Weltraums an, während staatliche Akteure verstärkt in militärische Kapazitäten investieren.
Die europäische Launcher-Krise
Doch die Verschärfung der geopolitischen Lage in Europa durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat nicht nur die zentrale Bedeutung von Weltraumtechnologien für moderne Militäroperationen bewiesen, sondern auch deutliche Schwachstellen in der europäischen Raumfahrtindustrie entlarvt. Die Oberstufentriebwerke der Vega-Rakete werden in der Ukraine mit russischen Teilen gefertigt und es sind erhebliche Investitionen erforderlich, wenn Europa in der Raumfahrt unabhängig von Russland werden will.
Gleichzeitig wurde die Nutzung von russischen Soyuz-Raketen durch europäische Kunden sanktionsbedingt eingestellt. Die europäische Raumfahrtindustrie ist von weiteren Problemen geplagt: Die Vega-Rakete hat mit technischen Problemen zu kämpfen und die Schwerlastrakete Ariane 6, die das im Sommer 2023 auslaufende Ariane-5-Programm ersetzen sollte, hat immer noch keinen Erstflug absolviert, obwohl dies ursprünglich für das Jahr 2020 geplant war.
Diese Situation, in der Europa zumindest vorübergehend nicht in der Lage ist, eigene Satelliten selbstständig im Orbit zu platzieren, wurde von Esa-Direktor Josef Aschbacher als "akute Launcher-Krise" bezeichnet und hat zu einer hitzigen Debatte über die Organisation der europäischen Raumfahrtindustrie geführt.
"Geo-Return"-Prinzip
Um für alle 13 europäischen Staaten, die an der Ariane beteiligt sind, einen Ausgleich für ihre Investitionen zu garantieren, werden Industrieaufträge nach dem sogenannten "Geo-Return"-Prinzip verteilt: Proportional zum Investitionsanteil des jeweiligen Landes werden nationale Unternehmen mit der Produktion von Raketenteilen beauftragt. Dieses industriepolitische Instrument hat eine gemeinschaftliche Einigung zwischen den beteiligten Ländern mit divergierenden Interessen sichergestellt und das Ariane-Programm zu einem Vorzeigeprojekt europäischer technologischer Integration gemacht, allerdings stand wirtschaftlicher Erfolg jahrzehntelang nicht an erster Stelle.
Angesichts des zunehmenden Wettbewerbs und der wachsenden geopolitischen Rivalitäten werden das "Geo-Return"-Prinzip und andere Aspekte der miteinander verflochtenen Prozesse der wissenschaftlich-technologischen und politischen Integration Europas nun allerdings zunehmend infrage gestellt. Die Ariane wird von Kritiker:innen als zu teuer und ihre Produktion als zu komplex und bürokratisch angesehen, um mit dem Tempo ihrer Konkurrenten in den USA mithalten zu können.
Eine stärkere Kommerzialisierung des Raumfahrtsektors wird von der Industrie befürwortet, wodurch der ESA und nationalen Raumfahrtbehörden nur noch die "Ankerkunden"-Rolle zukommen würde, das heißt, die Verpflichtung eine jährliche Mindestanzahl an Raketenstarts zu kaufen. Zusätzlich führt die Zunahme von Start-ups und öffentlich-privaten Partnerschaften bei sogenannten Micro Launchern, die Kleinsatelliten in den Low-Earth-Orbit transportieren, dazu, dass nationale Alternativen denkbar werden und ein neuer innereuropäischer Wettbewerb entsteht.
Diese Entwicklungen spiegeln einige der bekannten Spannungen in Europa wider: nämlich das Schwanken zwischen Einheit und Pluralität, Kooperation und Konkurrenz und die schwierige Positionierung Europas in einem globalen Hightech-Wettbewerb.
Dritte diplomatische Macht im Raumfahrtsektor
Darüber hinaus ist durch die veränderte Sicherheitslage "Strategische Autonomie" zu einem neuen Schlagwort in der europäischen (Raumfahrt-)Politik geworden. Eine starke Präsenz in der Raumfahrt wird zunehmend als notwendige Voraussetzung für Europas Rolle als globaler Akteur angesehen. Die Frage der Weltraumsicherheit und die Tendenz in der europäischen Politik, den Weltraum als Teil der gemeinsamen europäischen geopolitischen Strategie zu nutzen, kann als eine der wichtigsten Veränderungen in der europäischen Herangehensweise an den Weltraum verstanden werden.
Jahrzehntelang hat sich Europa als dritte diplomatische Macht im Raumfahrtsektor etabliert, die sich in erster Linie auf zivile und kommerzielle Aktivitäten konzentriert und einen Fokus auf internationale Zusammenarbeit legt. Während Raumfahrtprogramme schon immer eine geopolitische und sicherheitspolitische Dimension hatten, tragen jüngste Entwicklungen nun dazu bei, die Verbindungen zwischen europäischen Raumfahrtaktivitäten und dem Verteidigungssektor zu stärken.
Als integrale Bestandteile der heutigen Technologiepolitik sind Infrastrukturen wie das Ariane-Raketenprogramm sowohl Sedimente der Vergangenheit als auch Artikulationen einer gewünschten – oder befürchteten – Zukunft. Viele Akteure der europäischen Raumfahrt sind sich einig, dass Europa eine neue Vision für seine Rolle im Weltraum braucht – aber welche diese angesichts globaler Konflikte, der Militarisierung des Weltraums und des zunehmenden innereuropäischen Wettbewerbs sein wird, ist derzeit noch offen. (Nina Klimburg-Witjes, Philipp Kürten, Kai Strycker, 20.3.2024)