Clemens J. Setz
Der zweite Poeta Laureatus, Clemens J. Setz.
SUHRKAMP VERLAG/RAFAELA PRÖLL

KOPF EINES SCHWÄRZLICHEN LÖWEN, BRÜLLEND

Ich schaute im Gehen einen Bericht
über drei Soldaten in einem Krankenhaus in Uschhorod,
im Freien, an einem Tag Ende März

Es war so kalt und die Hunde auf der Straße
gingen mit ganz kleinen Augen

Zuerst war da Jewgeni, genannt Gulliver,
aufgrund seiner enormen Körperlänge
"Freiwillige suchten in ganz Uschhorod
nach Kleidern für ihn", nichts passte
Er lag mit nackten Beinen im Bett

Dann Artjom, schwer verletzt,
träumte davon, seinen Sohn
von der Schule abzuholen,
irgendwann, in der Zukunft,
als echter Vater, in Kappe und Uniform

Und schließlich Serhij, vor dem Krieg Elektriker,
schweigsam, in sich ruhend,
bis eines Tages seine Frau
eine Leinwand mit ins Krankenhaus brachte
Seither malt er liegend
den ganzen Tag an einem Gemälde

Ich war nun wirklich weit gegangen
nur noch kniehohe Vorstadthäuser
mit Krempen statt Dächern
und Vorgärten voller Grottenbahngondeln
und der Filmbericht riss andauernd ab
bevor Serhijs Bild gezeigt wurde

Ich blieb stehen vor einem Haus
auf dessen Fensterbrett eine winzige Windmühle stand
mit dem Ausdruck meiner eigenen Stirnfalten
am frühen Morgen

Und ich spulte zurück, aber immer nur kamen
wir bis zu dem Punkt, da Serhijs Bild
für uns gedreht wird

Am Stadtrand von Wien
ging ich auf und ab
zwischen Krähen und alten Magnolienbäumen
Und es war entsetzlich, es kam einfach nicht
das Bild blieb immer nur stecken

Auf dem Heimweg dann
am noch summenden Wochenmarkt
die Leiber der Fische
silbern in der Sonne wie riesige Schlüssel (Clemens J. Setz, 6.4.2024)