Dark Brandon, das Alter Ego von Joe Biden. Nun hat der Präsident das Tiktok-Verbot abgesegnet, obwohl er und sein Wahlkampfteam auf der Plattform selbst sehr aktiv sind.
@JoeBiden/White House

Zuletzt war dann Joe Biden am Zug. Wie es sich für einen Influencer gehört, schlüpft der 81-Jährige gerne in die Rolle seines Alter Egos, Dark Brandon. Als dieser kann er plötzlich Laserstrahlen aus den Augen abfeuern. Mit 306.000 Followern betreibt der Herr im dunkelblauen Anzug auch keinen ganz kleinen Kanal mehr. Fast vier Millionen Mal wurde eines seiner Videos geliked. Ach ja, Biden ist übrigens auch US-Präsident. In dieser Rolle hat er jetzt jenes Gesetz unterzeichnen, mit dem Tiktok in den USA verboten werden wird, damit ist es wohl auch mit den Laser-Augen von Dark Brandon vorbei.

Überraschend schnell hat auch der US-Senat mit überwältigender Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, das den chinesischen Mutterkonzern Bytdeance dazu zwingen soll, die Plattform zu verkaufen, oder sie wird in den USA verboten. Die Debatte darüber wird schon seit mehr als einem Jahr geführt, schlief zwischenzeitlich ein und ist Anfang des Jahres 2024 umso heftiger erneut ausgebrochen. In den USA wird die immens populäre App (und deren Konzernmutter) als verlängerter Arm der Kommunistischen Partei Chinas gesehen. Diese soll, so die amerikanische Sicht der Dinge, nicht nur Falschinformationen verbreiten, sondern auch US-Bürgerinnen und US-Bürger ausspionieren.

Ein Gesetz mit Lücken

Bytedance hat nun 270 Tage (plus einer dreimonatigen Zusatzfrist, falls die Verhandlungen glaubhaft verlaufen) Zeit, einen der US-Regierung genehmen Käufer für die App zu finden, sonst wird sie aus den Stores verbannt. Dass die App wirklich verkauft wird, ist nach aktuellen Kenntnissen eher unwahrscheinlich. Die chinesische Regierung hat bereits angekündigt, einem Verkauf der App an ein US-Unternehmen nicht zuzustimmen. Peking will es auf ein Verbot in den USA ankommen lassen. Das würde bedeuten, dass die App nicht mehr über offizielle Kanäle wie den Play Store von Google oder den App Store von Apple zur Verfügung gestellt werden darf. Auch Updates bestehender Installationen wird es wahrscheinlich nicht mehr geben. Das heißt für die 170 Millionen Nutzer und Nutzerinnen in den USA, dass die App zwar noch eine ganze Weile lang funktionieren wird, irgendwann aber durch mangelnde Weiterentwicklung ihren Dienst quittieren wird. Technische Schlupflöcher, mit denen die App trotz des Verbots weiterhin genutzt werden kann, wird es freilich immer geben.

Bis es in Washington so weit ist, dürfte aber noch einiges Wasser den Potomac hinabfließen. Bytedance hat bereits angekündigt, gegen das Gesetz zu klagen. Verständlich, denn schon einmal ist ein Versuch, den Verkauf von Tiktok in den USA zu erzwingen, gescheitert. Damals war es Donald Trump, dem die Gerichte ausrichteten, dass ein Verbot der App einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlich geschützte Redefreiheit darstellt.

"Es ist ein Grundprinzip des ersten Verfassungszusatzes, dass die Regierung eine Rede nicht verbieten kann, weil sie ihr nicht gefällt oder weil sie überzeugt ist, dass sie Menschen von Ideen überzeugen wird, die sie nicht mag", sagte Evelyn Douek, Assistenzprofessorin für Recht an der Stanford Law School gegenüber Platformer.

Enorme Bedeutung

Diese Einschätzung kommt nicht von ungefähr, ist doch Tiktok mittlerweile das bevorzugte Medium einer ganzen Generation geworden. Die Zeiten, als Tiktok-Videos vornehmlich aus Singen, Klatschen und Tanzen bestanden, sind längst vorbei. Tiktokter Vitus Spehar beispielsweise bereitet Nachrichten für die Gen Z auf. Er liest sie unter dem Schreibtisch vor, daher auch der Name "Under The Desk News". 3,1 Millionen Menschen verfolgen seine Nachrichtensendungen, und Spehar ist regelmäßiger Gast bei Pressekonferenzen im Weißen Haus. Er hat als Tiktoker eine Akkreditierung als Journalist.

Tiktok ist zudem zur wichtigsten Werbeplattform für Filme und Serien geworden. Der Erfolg von Filmen wie Barbie und Oppenheimer wäre ohne Tiktok nicht möglich gewesen, den Behind-the-Scenes-Videos der Hauptdarsteller sei dank, wie die New York Times analysiert. "Jetzt, wo die Studios herausgefunden haben, wie sie Tiktok nutzen können, ist das Letzte, was sie wollen, dass es dunkel wird", sagte Sue Fleishman, eine ehemalige Führungskraft von Universal und Warner Bros. "Das wäre tatsächlich ein großes Problem."

Auch wirtschaftlich ist Tiktok in den USA nicht unbedeutend. Die App generiert einen jährlichen Umsatz von 16 Milliarden Dollar, hauptsächlich aus Werbeeinnahmen. In den USA sind rund 7000 Menschen bei Tiktok beschäftigt.

Tiktok löscht den Brand mit Kerosin

Doch wenn Tiktok so eine große Bedeutung im Medienkonsum junger Menschen hat, wie konnte es so weit kommen, dass die App verboten wird? Der Spionagevorwurf wiegt natürlich schwer, hätte aber möglicherweise noch nicht für einen Eingriff in die Grundrechte gereicht. Einen wesentlichen Beitrag zum Bann leistete die Plattform selbst. Tiktok und Bytedance haben logischerweise versucht, das Verbot mit allen Mitteln abzuwenden, und versuchten den Brand mit Raketentreibstoff zu löschen. Ja, Tiktok soll selbst den Wendepunkt herbeigeführt haben und die Mehrheit der US-Politik gegen sich aufgebracht haben.

Als das Repräsentantenhaus im März über ein Verbot der Video-App diskutiert wurde, forderte Bytedance die Nutzerinnen und Nutzer auf, durch Tippen auf einen Button ihre Abgeordneten anzurufen und diese aufzufordern, gegen ein Verbot zu stimmen. Das Ergebnis dieses Aufrufs war beeindruckend, aber auch ein Schuss ins eigene Knie. Die Büros der Politiker wurden mit Anrufen geradezu überhäuft, sodass die Angestellten teilweise keine andere Wahl hatten, als die Telefone komplett abzuschalten. Dieser Schritt wurde von vielen US-Politikern, Demokraten wie Republikanern, als chinesische Einmischung in die US-Politik, Wählermanipulation und Einschüchterungsversuch gewertet. Dabei hätte es Tiktok besser wissen müssen. Als 2023 ein ähnliches Gesetz an Fahrt gewann, machte Tiktok-CEO Shou Zi Chew in einem Video auf der Plattform Stimmung dagegen. Diese Aktion wurde damals schon als Versuch der Manipulation gewertet.

Der Chef zog die Schlinge zu

Generell hat sich der Tiktok-CEO auf dem Parkett in Washington nicht mit Ruhm bekleckert. Der ehemalige Finanzvorstand von Xiaomi und Bytedance-Manager übernahm die Führung von Tiktok im März 2021. Zwei Jahre später saß er im US-Kongress und versuchte, den technisch oft nicht ganz sattelfesten Politikern sein Unternehmen zu erklären. Dabei versuchte er seine Botschaft so simpel wie möglich zu halten und stellte Tiktok als amerikanisches Unternehmen dar. Die Daten der US-User würden in Texas, also auf US-Boden, gespeichert und würden diese niemals in Richtung China verlassen. Ja, nicht einmal der Mutterkonzern Bytedance habe darauf Zugriff.

Tiktok-CEO Shou Zi Chew hatte seine liebe Not, dem US-Kongress die App zu erklären, und griff auf die Botschaft zurück, Tiktok sei in den USA ein amerikanisches Unternehmen. Eine Behauptung, die so offenbar nicht stimmte.
AFP/OLIVIER DOULIERY

Dieses von Tiktok offiziell benannte "Project Texas" sei "eine beispiellose Initiative, die darauf abzielt, dass sich jeder Amerikaner auf Tiktok sicher fühlt und darauf vertrauen kann, dass seine Daten sicher sind und die Plattform frei von äußeren Einflüssen ist". Wie sich in der Vorwoche herausstellte, dürfte das so nicht ganz stimmen. Mehrere ehemalige Mitarbeiter erklärten gegenüber Fortune, dass das Project Texas eher "kosmetischer Natur" sei und dass sie und ihre Kollegen auch nach der Umsetzung des Plans weiterhin eng mit den Führungskräften von Bytedance in Peking zusammenarbeiteten.

Bärendienst aus Peking

Ein weiterer Bärendienst kam vom chinesischen Außenministerium. Vor der Abstimmung beschuldigte ein Sprecher die USA, "Tiktok zu unterdrücken", obwohl sie "nie Beweise dafür gefunden haben, dass Tiktok die nationale Sicherheit bedroht. Diese Art von schikanösem Verhalten, das in einem fairen Wettbewerb nicht gewinnen kann, stört die normale Geschäftstätigkeit von Unternehmen, beschädigt das Vertrauen internationaler Investoren in das Investitionsumfeld und schadet der normalen internationalen Wirtschafts- und Handelsordnung", hieß es. Die USA folge der "Logik von Banditen", tobte man in Peking. Das chinesische Außenministerium schloss mit einer Drohung: "Am Ende wird dies unweigerlich auf die Vereinigten Staaten selbst zurückfallen." Die naheliegende Attacke auf die USA hatte aber einen Nebeneffekt: Die Aussagen aus China galten in den USA wiederum als Beweis, dass Tiktok eben doch unter dem Einfluss Pekings steht.

Unerwähnt lässt China natürlich auch die Tatsache, dass eine Vielzahl westlicher Dienste, von Bing über Netflix bis Youtube, von der großen Firewall blockiert werden. Angelastet wurde diese Doppelmoral in den USA freilich Tiktok.

Folgen für die Welt

In den USA tauchen, nur wenige Stunden nachdem das Gesetz das Repräsentantenhaus passiert hat, erste Stimmen auf, die einen Schneeballeffekt befürchten. Wie Axios berichtet, verbietet der Gesetzesentwurf jede App, die von der US-Regierung als "von ausländischen Gegnern kontrollierte Anwendung" eingestuft wird. Das schließt Apps ein, die direkt oder indirekt (also über Muttergesellschaft, Tochtergesellschaften) von diesen "ausländischen Gegnern" betrieben werden.

Mit dieser Formulierung könnten auch weitere Apps von Bytedance verboten werden. Capcut hat sich beispielsweise zu einer sehr beliebten Videobearbeitungs-App sowohl für Mobilgeräte als auch für Desktop-Computer entwickelt. Das Gleiche gilt für die Fotobearbeitungs-App Hypic von Bytedance. Lark ist ein Office-Paket, bestehend aus Apps für Unternehmen, die Dokumente, Chats, Messaging und mehr umfassen. Es ist im Grunde die Bytedance-Version von Google Workspace, und das Unternehmen nutzt es sogar intern. Nach dem Tiktok-Verbotsgesetz in den USA könnte jedoch auch Lark auf dem Richtblock landen.

Bei der New York Times befürchtet man sogar, dass sich andere Länder die USA zum Vorbild nehmen könnten und ihrerseits mit einer ähnlichen Argumentation Dienste und Apps verbieten. Der russische Oppositionsblogger Aleksandr Gorbunov schrieb letzten Monat in den sozialen Medien, dass Russland die Maßnahme nutzen könnte, um Dienste wie Youtube abzuschalten.

Mishi Choudhary, Anwältin und Mitgründerin des Software Freedom Law Center in Neu-Delhi, befürchtet, dass die indische Regierung auch ein US-Verbot nutzen würde, um weitere Abschaltungen zu rechtfertigen. Indien hat Tiktok im Jahr 2020 wegen Grenzkonflikten mit China verboten, weitere unliebsame Apps könnten folgen.

Tiktok begeht aktuell ähnliche Fehler in Europa

Hat Tiktok also aus den Fehlern gelernt? Es scheint nicht so zu sein. In Frankreich und Spanien erschien dieser Tage Tiktok Lite. Wie der Name schon andeutet, soll die App weniger Systemressourcen und Datenvolumen verbrauchen. Ein Kernelement ist aber ein Belohnungssystem. Schaut man Videos oder abonniert Creator, bekommt man Münzen, die man später in Gutscheine für Online-Shops umtauschen kann. Prompt eröffnete die EU-Kommission ein Verfahren nach dem Digital Services Act. Tiktok hätte es wissen müssen, schließlich verbietet das europäische Regelwerk derartige Geschäftspraktiken, "Dark Patterns" genannt. Erst als die EU-Kommission eine Strafe in Form von sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes androhte, flatterte die vorgeschriebene Risikoabschätzung in Brüssel ein.

Vom Haken gelassen ist Tiktok damit aber noch lange nicht, denn ein weiteres Verfahren der EU-Kommission läuft noch immer. Der Plattform wird unter anderem vorgeworfen, Falschmeldungen und Hassbotschaften nicht rigoros genug wegzumoderieren. Außerdem kommt die Plattform der Verpflichtung, bestimmte Daten der Forschung zur Verfügung zu stellen, nicht ausreichend nach.

Die offiziellen Zahlen von Tiktok sagen freilich etwas anderes aus: Man habe rund vier Millionen Beiträge wegmorderiert. Allein im deutschsprachigen Raum sind über 800 Menschen mit der Inhaltsmoderation beschäftigt.

Bislang reagierte Tiktok auf Vorwürfe, die Inhaltsmoderation wäre zu langsam oder reagiere bestenfalls auf Zuruf, immer gleich: Man halte als eine Art Sündenbock für alle Social-Media-Plattformen her. Auf Presseanfragen hieß es häufig, man möge doch bitte beweisen, dass ein gefährlicher Trend oder eine Falschmeldung ihren Ursprung tatsächlich auf Tiktok habe. Auch Anfragen des STANDARD wurden regelmäßig so beantwortet. Die Strategie hat sich mittlerweile geändert: Tiktok antwortet gar nicht mehr. (Peter Zellinger, 24.4.2024)