"Im Leben hängt unser Erfolg oft davon ab, dass wir verstehen, was andere denken. Ebenso auf Duolingo": Kurt Leutgeb.
IMAGO/Elmar Gubisch

Erstens

"Der Kluge lernt gern, der Depp lehrt gern", schrieb Tschechow. Ich bin ein kluger Depp, denn ich lerne gern und ich lehre gern, nämlich Fremdsprachen.

Meine Muttersprache lernte ich in verschiedenen Varianten, die einander fast Fremdsprachen waren. Manche Ausdrücke meiner Mutter verstand ich auch nicht recht; unter dem Bogumsimauni, wie der man nicht dreinschauen sollte, stellte ich mir ein Monster vor und lernte erst spät, dass der Bock um Simoni gemeint war.

In der zivilisatorischen Realität hängt vieles von der Bildungssprache ab. Wenn junge Leute, die ihre Muttersprache schlecht können, zumeist auch in ihrer Zweit- und Bildungssprache Probleme haben, so liegt hier eine Korrelation vor, keine Kausation. In meiner Praxis als Russischlehrer — es ist wie 1941 in Amerika Deutsch unterrichten, oder in Vichy — stelle ich fest, dass Leute, die im familiären Umfeld passable Alltagskenntnisse erworben haben, an einfachen Aufgaben scheitern, die Studierende ohne Vorkenntnisse nach einem Semester fast fehlerfrei bewältigen. Auch der Mythos vom Kellner, der fünfzehn Sprachen spricht, platzt, wenn er außerhalb seiner gewohnten Situation kommunizieren soll.

Zweitens

Eigentlich habe ich überhaupt keine Zeit, diesen Essay zu schreiben. Aber nicht Familie und Freunde, Job und Werk, Hund und Katz, Haus und Garten, Verein und Steuer, Zeitschrift und Buch, Netflix und Prime, Laufen und Fußball, niksen und dolce far niente halten mich an diesem sonnigen Sonntag vom Schreiben ab, sondern Duolingo. Ich bin im Mai 2018 beigetreten, mein Streak ist heute 1040 Tage lang, ich habe über 170.000 XP in Französisch, Dänisch, Ukrainisch, Italienisch und Latein erworben. Doch jetzt drohe ich aus der Diamantliga abzusteigen, nachdem ich sie erst vorige Woche wieder einmal gewonnen habe. Und so wenig mir Besitz und Status sonst bedeuten — in die Obsidianliga absteigen will ich nicht. Durch Duolingo allein kann man ebenso wenig eine Sprache lernen wie allein durch den Schulbesuch.

Der Fremdsprachenerwerb ist immer ein Lebensprojekt, das man annehmen muss, um Erfolg zu haben. Der Gegensatz von Schule und Leben ist ein scheinbarer. Man lernt sowohl durch die Schule als auch durch das Leben sowohl für die Schule als auch für das Leben. Und sowohl in der Schule als auch im Leben hängt unser Erfolg oft davon ab, dass wir verstehen, wie andere denken. Ebenso auf Duolingo. Gestern Abend übersetzte ich Compri spesso la frutta dal fruttivendolo? mit Kaufst du Obst oft beim Obsthändler?, doch Duolingo akzeptierte nur Kaufst du oft Obst beim Obsthändler?, obschon es in der Frage nicht darum geht, ob ich überhaupt oft Obst kaufe, sondern ob ich es beim Obsthändler kaufe und nicht etwa im Supermarkt, und die angeblich richtige Übersetzung zudem insinuiert, man könne beim Obsthändler auch etwas anderes als Obst kaufen.

Drittens

Ich bin kein großer Deutscher. Die Beschäftigung mit dem Eigenen, wie die Germanisten sie praktizieren, erschien mir immer masturbatorisch. Immerhin kann man dem Deutschen zugutehalten, dass es eine der großen Sprachen der Philosophie ist. Was ich voll und ganz ablehne, ist die autoritäre, pedantische und banausische Praxis der deutschen Sprachpflege. Ich halte mich dennoch weitgehend an die willkürlichen und hanebüchenen Regeln, weil man sich mit Narren ja nicht streiten soll. Gäbe es im Deutschen einen Henry Watson Fowler, der auf höchstem philologischem, linguistischem und literarischem Niveau Ratschläge erteilte, würde ich ihm wohl folgen. Ein Reiz des Fremdsprachenlernens liegt darin, dass man sich reinen Gewissens einer guten Autorität unterordnen kann, da die eigene Kompetenz zunächst beschränkt ist. Seit meinem zwölften Lebensjahr bin ich ein Doors-Fan. In einer Radiosendung sagte Ray Manzarek über Jim Morrison, He used to read Nietzsche. Also kaufte ich mir als Vierzehnjähriger die Götzendämmerung und wurde Nietzscheaner. Meine gesamte Lektüre, die mich zu Schopenhauer, Freud, Bourdieu und von diesen zu den von ihnen erwähnten Autoren, seltener Autorinnen, führte, nahm dort ihren Ausgang. Da die Doors ihren Bandnamen von William Blake hatten, erwarb ich mit fünfzehn auf Klassenfahrt in England dessen Complete Poems und begann eine große Karriere als Leser englischsprachiger Literatur. Lange lebte ich im neunzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter des Nationalismus, wo jedenfalls Französisch und Englisch, Latein und Griechisch, auch Italienisch und Spanisch als selbstverständlich vorausgesetzt wurden und in die deutschen Texte einflossen. Die stationären Buchhandlungen in Österreich hingegen waren, und sind bis heute, Horte des ausschließlichen Deutschtums. Seit es Amazon gibt, brauche ich keine Rucksäcke voller Bücher mehr aus dem Ausland anzuschleppen.

Duolingo
Das Logo der Sprachlern-App Duolingo.
Duolingo

Viertens

Ich verbrachte meine ersten achtzehn Jahre in Enns, auf der richtigen Seite der historischen Grenze sowohl zwischen der amerikanischen und der sowjetischen Besatzungszone als auch zwischen dem Römischen Reich und den Barbaren. Die ersten drei Fremdsprachen, die ich lernte, waren Englisch, Russisch und Latein. Man lernt zumeist imperiale Sprachen. Als Englischlehrer werde ich manchmal Zeuge der Diskriminierung indischer Akzente, denen man mit Amüsement begegnet, und nigerianischer Usancen, denen Aggression und Verachtung entgegengebracht wird. Ländliche österreichische Akzente haben es schwerer als etwa arabische, denn letztere erkennen die Sprachchauvinisten nicht.

Fünftens

Griechisch lernte ich erst mit achtzehn Jahren. Selbstverständlich wollte ich alle griechische Literatur im Original lesen, denn das Übersetzen ist zwar eine außerordentlich instruktive Tätigkeit, doch seine Resultate geben vor, etwas zu sein, das sie nicht sind. Übersetzungen lesen ist wie Pornos schauen. Nach einem Jahrzehnt griechischer Lektüre musste ich feststellen, dass ich die griechische Literatur nur in ganz kurzen Bruchstücken kannte. Seither lese ich Übersetzungen und studiere ausgewählte Passagen im Original.

Sechstens

Die klassischen Sprachen waren im christianisierten Europa ein Refugium der Freiheit und Schönheit. Die Renaissance, die Aufklärung und im zwanzigsten Jahrhundert den Sieg der Demokratie über den Faschismus und den Kommunismus verdanken wir wesentlich dem Studium und der Pflege der Alten. Europäer kann man ohne Latein nur etwa so sein wie Muslim ohne Arabisch, Buddhist ohne Sanskrit. Im sozialklischeehaften Film Saltburn fällt dem reichen Adelsspross Felix auf die Frage, was er an der Privatschule gelernt habe, nur Latin ein. In England wird Latein nur mehr an Privatschulen unterrichtet, und Privatschulbesuch korreliert eng mit der Zugehörigkeit zur Fraktion der herrschenden Klasse, was mit ein Grund dafür ist, dass in der Anglosphäre christianoid-faschistoide Dunkelmänner Latein als Kernelement eines westlichen Bildungskanons durchsetzen. Auch bei uns war die Klassische Philologie im zwanzigsten Jahrhundert christlich-faschistisch dominiert. Gegen diese üblen Leute gehalten sind die Linken und Progressiven, die irgendwelche Campusmoden auf die alten Texte anwenden, bloß lächerlich. Aus dem Stowasser und dem Gemoll kann man, anders als aus dem Duden, auch Deutsch lernen. Der Referenzstil aller europäischen Prosa ist bis heute die ciceronische goldene Latinität. Pierre Bourdieu las als Student viele Seiten Cicero, ohne besonders auf den Inhalt zu achten, um sich den sprachlichen Habitus zu eigen zu machen.

Siebtens

Lange war das gebildete Europa über das Lateinische sprachlich geeint, und ich persönlich würde eine bronzene Latinität unserer eisernen Anglizität vorziehen. Freilich gibt es rein praktisch keine Alternative zum Englischen, und angesichts der aktuellen militärischen Bedrohung und globalen Verwerfungen wäre es frivol, darüber zu klagen. Von der Anglosphäre aus besehen, ist Europa heute linguistisch ein zweites Indien, wo die Vernakularsprachen wohl eine regionale Bedeutung haben, alles Wichtige aber auf Englisch machbar ist. Dass in der Anglosphäre weite Teile der Bevölkerung nur Englisch können, mag mit ein Grund für die dort neuerdings zutagetretende Engstirnigkeit und Parochialität sein. Noch unschöner und verderblicher ist die bei uns so weit verbreitete Diglossie jener akademischen und journalistischen Eliten, deren Erstsprache ein restringiertes Lingua-franca-Englisch ist, aus dem sie unreflektiert ihre Ideologie und Agenda übernehmen.

Achtens

Etwas mehr als zwanzig Prozent der Weltbevölkerung verfügen über funktionale Englischkenntnisse; "jeder kann Englisch". Wenn man einfach gut durchs Leben kommen will, reicht es zumeist, ordentlich Englisch zu lernen. Einen gewissen Anteil am generell so hohen Niveau der Englischkenntnisse der jungen Bildungsschicht haben neben den neuen Technologien auch die nicht form-, sondern funktions-, nicht problem-, sondern fertigkeitsorientierte Didaktik und das Vorhandensein sowohl exzellenter Lehrmaterialien als auch kompetenter Lehrpersonen. Anderseits sind in der Nazizeit zahlreiche Intellektuelle, die in der Schule nur Grammatik und Vokabeln gepaukt hatten, in die Anglosphäre emigriert und haben binnen kurzem an Universitäten gelehrt und Bücher geschrieben. Sogar die Nationalsozialisten hatten ja zunächst den Realitätssinn, den Englischunterricht im Deutschen Reich zu forcieren, und auch der Islamische Staat produzierte Englischlehrbücher.

Kurt Leutgeb
"Der Kluge lernt gern, der Depp lehrt gern": Der Autor Kurt Leutgeb ist ein kluger Depp und seit 30 Jahren auch als Fremdsprachenlehrer in der Erwachsenenbildung tätig.
privat

Neuntens

Dass Birgitte Nyborg als dänische Premierministerin in Borgen ohne jede Vorbereitung in perfektem Französisch parliert, wenn Paris oder Brüssel anruft, weist sie als hervorragende Persönlichkeit aus. Nachwuchsmafioso Spadino Anacleti in Suburræterna hat, seiner bedächtigen und korrekten Sprechweise mit seinem Partner Mesut nach zu schließen, in Berlin nicht nur von diesem, sondern auch in einem Sprachkurs Deutsch gelernt. Als Ava in Hacks das Spanisch ihrer Ex Ruby nicht versteht, ruft sie, I’m not that far on Duolingo! Emily tut sich in Paris mit dem Französischen auch deshalb so schwer, weil alle gut Englisch können. Wie schon der Monaco Franze im Englischkurs knüpft sie im Französischkurs Kontakte zum anderen Geschlecht. Der Franze lernt im faden Kurs kein Englisch, will bei der Lehrerin seinen Charme spielen lassen, um die Prüfung zu bestehen, und besticht sie schließlich.

Zehntens

Die indoeuropäischen Sprachen unterscheiden sich ja bei informierter Betrachtung voneinander nicht viel radikaler als ein österreichischer Dialekt vom Standarddeutschen. Schopenhauer lernte im Alter Sanskrit und fand es nicht dem Geist des Sanskrit entsprechend, den er aus Übersetzungen geschöpft hatte. Sollte ich je in die Verlegenheit kommen, alt zu sein, will ich eine nichtindoeuropäische Sprache wirklich gut lernen. Mögen andere reich sterben — ich gehe mit B2 Japanisch ins Nichts.

Elftens Seit dreißig Jahren arbeite ich als Fremdsprachenlehrer in der Erwachsenenbildung. Meine Menschen- und Gesellschaftskenntnis rührt wesentlich vom Unterrichten in einer ingenieurdominierten deutschen und einer marketinggesteuerten amerikanischen Firma; von Hauptschulabschlusskursen, wo die Leute kaum What’s your name? beantworten konnten, aber positiv abschlossen; von DaF für Sprachtouristinnen, arbeitslose Schweden, japanische Musikerinnen; Englisch für Pensionistinnen aus Margareten und für Automechaniker aus Favoriten; Studienberechtigungs- und Berufsreifeprüfung vor allem für Autochthone, nunmehr Abendgymnasium mit sehr buntem, jungem Publikum. Neben der Erkenntnis, dass der Fremdsprachenerwerb eine Lebensaufgabe ist, die man annehmen muss, habe ich in den drei Jahrzehnten auch eine Zauberformel für meine Studierenden gefunden: Vokabeln lernen.

Zwölftens

Ist es nicht Zeitverschwendung, Wörter zu lernen, die ihren Bedeutungen weitgehend beliebig zugeordnet sind? Haben nicht längst die Technokraten, die alle Sprache auf eine Abfolge von Nullen und Einsen reduzieren, uns Übersetzungsapps und Sprachmodelle an die Hand gegeben, welche diese Mühe überflüssig machen? Ja, aber beim Sprachenlernen ist der Prozess ebenso erhellend wie die Anwendung der erworbenen Fertigkeiten. Die Zahlen sind Wörter, nicht umgekehrt. Und die menschliche Zivilisation, die wesentlich eine sprachliche ist, wird verkümmern, wenn wir sie ganz den Maschinen, jenen neuen Barbaren, anheimstellen. Freudianisch erklärt sich fortgesetztes Fremdsprachenlernen als Sublimation des Sexualtriebes. Jede neue Sprache eine kolossale Eroberung, auch wenn es in meinem Fall zumeist bei einer Lesebeziehung bleibt. Von den Kunst- und Plansprachen, jenen Plastikblumen, halte man sich fern. Wenn sie als Frankensprachen lebendig werden, sind sie bloß defektive natürliche Sprachen. Die Menschen verdienen, wenn auch sonst nicht immer, als tätige Träger der über Jahrtausende in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit geformten Kommunikationssysteme unsere Aufmerksamkeit und Hochachtung.

Dreizehntens

Das Fremdsprachenlernen taugt zur Metapher der Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens. Man müht sich, feiert lächerliche Triumphe und bleibt immer ein unsicherer Halbwissender, der in Wörterbüchern scrollt. Denn was weiß ein Fremder? Ich bin in die Obsidianliga abgestiegen. Immerhin ist der Essay fertig. (Kurt Leutgeb, 27.4.2024)