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Ist dem Strafrecht eine Geschlechterdifferenz eingeschrieben? Ist diese aus der Anwendungspraxis erkennbar? Gibt es Delikte, die (immer noch) geschlechtsspezifisch aufgeladen sind?

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Der Sammelband "Hat Strafrecht ein Geschlecht?" gibt (Teil)Anworten auf diese Fragen, aus unterschiedlichen Disziplinen, mit meist sehr spezifischen Ansätzen.

Foto: Buchcover Hat Strafrecht ein Geschlecht?/transkrip Verlag

"Vor dem Gesetz sind alle gleich": In der Justiz gilt der Anspruch der Objektivität und Gleichbehandlung stärker als in vielen anderen Disziplinen. Dass von dieser Prämisse oftmals abgewichen wird, zeigen Richtsprüche aber immer wieder. Faktoren wie sozialer oder kultureller Hintergrund formen wie die psychische Verfassung und das Alter der Angeklagten die Urteile; immer wieder sind diese letztlich Anlass für öffentliche Auseinandersetzung, die geprägt ist von der Differenz zwischen richterlicher Begründung und einer Rechtsauffassung von Laiinnen und Laien mit "gesundem Menschenverstand".

Ob und wie sich der Faktor Geschlecht aus der Rechtsprechung herausfiltern lässt, gestaltet sich schwieriger als beispielsweise die Frage nach der kulturellen Verortung einer Täterin oder eines Täters. Denn eigentlich sind nach den großen Strafrechtsreformen gegen Ende des letzten Jahrhunderts die deutschen Gesetzestexte getilgt von geschlechtsspezifischen Formulierungen; und auch die Spruchpraxis der Gerichte richtet sich danach. Dass trotz dieser Neutralisierungsversuche Recht nicht geschlechtsneutral ist, haben die Legal Gender Studies jedoch längst konstatiert. Lässt sich diese Annahme auch explizit auf das Strafrecht herunterbrechen?

Äußerst multiperspektivisch und interdisziplinär

Diese Frage stellt ein neues Buch, auch um einem Paradoxon auf die Spur zu kommen: Die Mehrheit der Fachliteratur zum Thema Strafrecht und Geschlecht befasst sich nämlich mit jenen, die statistisch gesehen weniger damit konfrontiert werden, den Frauen. Die Herausgeberinnen von "Hat Strafrecht ein Geschlecht?", Kriminologieprofessorin Gaby Temme und Literaturprofessorin Christine Künzel, halten fest, dass Frauen seltener Täterinnen und auch Opfer sind als Männer, und doch scheint die Straffälligkeit von Frauen ForscherInnen, Gesellschaft und nicht zuletzt die Presse mehr zu interessieren als die der Männer. Temme und Künzel erklären das gerade aus dem Umstand, dass das Weibliche als Abweichung, als das Andere einer Norm in die Jurisprudenz Eingang gefunden hat und dort viel länger als in anderen Disziplinen fortgeschrieben wurde.

Für ihr Buch versammeln sie Beiträge mit soziologischen wie Geschichts-, Literatur- und strafrechtswissenschaftlichen Gesichtspunkten und legen damit einen multiperspektivisch-interdisziplinären Querschnitt der Entwicklung der deutschen Rechtspraxis und -forschung vom 18. Jahrhundert beginnend bis heute vor. Entlang zentraler Fragestellungen zeichnet die Zusammenschau der AutorInnen so ein Bild von Brüchen, aber auch Kontinuitäten, was die Kategorie "Geschlecht" anbelangt: Ist dem Strafrecht eine Geschlechterdifferenz eingeschrieben? Ist diese aus der Anwendungspraxis erkennbar? Gibt es Delikte, die (immer noch) geschlechtsspezifisch aufgeladen sind?

"Medea-Frau" als Opfer

Ein solches Verbrechen ist der Infantizid. Dem Kindermord ist ein ganzes Kaptitel des Buchs gewidmet: Annika Lingner analysiert vor diesem Vergehenshintergrund die Medialität des Strafrechts in literarischen wie juridischen Diskursen im 18. Jahrhundert, in dem die Kommunikation über Gerichtswesen wie die Rechtssprechung in all ihren Zuständigkeitsbreichen bis hin zur Gerichtsmedizin in rein männlicher Hand war. Die Autorin macht den Infantizid als das "Schlüsselverbrechen" dieser Zeit aus und gibt Einblick in die literarische Aufarbeitung des Themas bei den Stürmern und Drängern Goethe, Wagner und Bürger. Alle drei lassen ihre Frauenfiguren Gretchen, Evchen und Rosette zu Kindsmörderinnen werden. Auch Schiller nimmt sich dem Diskurs um die "Medea-Frauen" an; Medea als die mythologische Skizze der Frau und Mutter, die ihre Kinder tötet, um den Gatten zu treffen, verweist hier bereits auf eine andere Ebene der Betrachtung: Weg von einer Medea als Rächerin, stolze, eifersüchtige Furie - eine "brechnende Rabenmutter", wie Lingner schreibt.  Hin zu der Täterin, die aus Last der Geburt und der daraus erwachsenden Verantwortung  Mutterschaft sich in Verzweiflung gegen das Kind wendet, um sich zu befreien und einer - im Hintergrund eingewobenen - Scham und Ehrverletzung des gesellschaftlichen Gefüges gerecht zu werden. Als hätte sie nie geboren. Die Kindsmörderin wird hier als Opfer begriffen.

Monsterschau im Osten

Dass sich das in der Medialität der jüngsten Vergangenheit anders ausnimmt, zeigt David James Prickett in seinem Beitrag über die ostdeutsche "Rabenmutter", die zur Kindsmörderin wird. Dieser Inbegriff der Antimutter schockiert die Gesellschaft heute zutiefst, weil hier jemand ihre zugeschriebene Rolle aufs "Brutalste" zurückweist, hält der Autor fest: "Weil sie als Bedrohung der Gesellschaft wahrgenommen wird." Und zugleich erleichtert die Festmachung an der ostdeutschen Frau - meist alleinerziehend und aus sozial niederer Schicht - den Umgang damit: Nicht unter uns passiert das, sondern dort und bei jenen. Prickett untersucht Presseberichte zu solchen Fällen, die tatsächlich gehäuft im ehemaligen Gebiet der DDR stattgefunden haben, und stellt fest, dass PolitkerInnen wie WortführerInnen auf diese Form der Monsterschau aufgesprungen sind, um die Folgen des DDR-Regimes zu zementieren als Entmenschlichungsapparat, unterstrichen durch die Gesetzeslage, die Spätabtreibungen erlaubte. Die Infantizide wurden als erweiterte Form davon, als Geburtenkontrolle, die sich nur im DDR-Regime entwickeln konnte, dargestellt.

"Liebeshelferinnen" gegen die Nazis

Weg von der Literaturwissenschaft führt ein anderes Kapitel, das sich mit Strafrecht im Nationalsozialismus beschäftigt: Karen Holtmann arbeitet anhand der Urteilspraxis des Volksgerichtshofs eine immanente Minderbewertung der widerständigen Tätigkeiten von Frauen heraus; die Aktivistin gegen das Nazi-Regime findet als "Liebeshelferin" des planenden, aktiven und handelnden Mannes Eingang und deutlich mildere Strafe. Michael Löffelsender befasst sich ebenfalls mit der geschlechtsspezifischen Zuschreibungspraktiken an NS-Gerichten und konstatiert den Deliquentinnen "unübersehbare" Strafmilderungseffekte durch das Frau Sein, kommt jedoch zum Schluss, dass von einer "grundsätzlich privilegierenden Wirkung der außerrechtlichen Kriterien" für Frauen nicht die Rede sein kann.

Nur eine ehrbare Frau...

Auch das Sexualstrafrecht ist Gegenstand der Auseinandersetzung: Susanne Hehenberger thematisiert im Kontext des frühneuzeitlichen Österreichs die Entwicklungen für die Rechtsauffassung des 19. Jahrhunderts. Ihr Quellenstudium vom "Decretum Gratiani" (1140) bis zur "Theresiana" (1768) zeigt Geschlecht als eines von vielen Differenzkriterien neben Stand, Zivilstand, Alter, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, Leumund; selbst die Tatsache, ob jemand fremd oder ortsansässig war, wurde in die Urteilsfindung miteinbezogen. Nur ein Vergehen kannte ausschließlich Männer als potenzielle Täter: Die "Notzucht", also sexueller Missbrauch. Frau war Opfer, aber nur wenn sie "unverleumbdet", "ehrbar" war und der beschuldigte Mann ein "unschambahrer". Sie musste die Anzeige zudem unmittelbar nach der Tat erstatten und "verständige Weiber" als Zeuginnen aufbringen. Waren all die Voraussetzungen erfüllt, drohte dem Täter die Enthauptung. Generell zeigt Heheberger auf, wie die zeitgenössische Auffassung von Sexualität - Penetration und Ejakulation - und kultureller Normen - vor allem die weibliche sexuelle Treue - in das Strafrecht eingeschrieben wurde.

Hartnäckige Vergewaltigungsmythen

Isabel Kratzer rollt Vergewaltigung unter Relevanz des Geschlechts für die Täter- bzw. Opfereigenschaft auf. Dabei fokussiert sie auf den männlichen Täter und das weibliche Opfer, ohne dass bestritten wird, dass auch Männer Opfer sexueller Gewalt werden - was erst 1997 Eingang in die Rechtsprechung gefunden hat. Die Schlüsselwörter für ihre Auseinandersetzung sind die "unwiderstehliche Gewalt", der "ernsthafte Widerstand" und der "minder schwere Fall", also das Vermögenspotenzial eines Opfers, sich dem Übergriff zu erwehren, - nach wie vor der Strafrechtsreformen 1997 - bei der Strafermessung erheblich sind. Kratzer zeigt auf, wie geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen in Gesetzen auf biologistischen Unterschieden einzementiert wurden und werden, denn bis heute sind Relikte überkommener Ansichten und Auslegungstraditionen konserviert, konstatiert die Forscherin; die späte Einbeziehung männlicher Opfer verdeutlicht das ebenso wie die hartnäckige Argumentation von Provokationen der Opfer durch Gesten und Kleidung, die die Tat erst evoziert hätten.

Briefe aus dem Gefängnis

Der Sammelband lässt auch Einblicke in den Strafvollzug nicht aus, und nähert sich sehr spezifisch über die literaturwissenschaftliche Betrachtung: In "Das Buch in der Zelle" widmet sich Torsten Sander der Geschlechterpädagogik im Strafvollzug einer Gefangenenanstalt in Deutschland 1928 und stellt ein damals erstelltes Bücherverzeichnis für weibliche Insassen vor; auch der nächste Beitrag zum Thema befasst sich mit Literatur, diesmal aber nicht nur für, sondern von Frauen: Johannes Fest hat sich im Strafvollzugsarchiv, das für die Dokumentation von und Aufklärung über Recht und Rechtswirklichkeit in Gefängnissen zuständig ist, eingelesen und anhand der an diese Stelle gerichteten Briefe von weiblichen Häftlingen (nur 3,6 Prozent der Gesamtpost, der Rest stammt von männlichen Insassen) Aussagen über deren Lebenswelten getroffen.

Über Intersektionalität zum gleichen Recht für alle

Abgerundet wird der Reader mit Beiträgen zu weiblicher und männlicher Prostitution - in der Weimarer Republik -, einer Statistikschau unter dem Gesichtspunkt Kriminalität und Geschlecht; und letztlich zwei grundsätzlichen gendertheoretischen Aufsätzen zum Thema, die den Ansatz der Intersektionalität bei der Forschung über Gender, Geschlecht, Kriminalität und Recht erklärt. In der Annahme, dass jeder Mensch zum "doing gender" im Stande ist, und dass dieses "Geschlechter-Spielen" durch andere soziale Kategorien wie Ethnizität und Klasse teils notwendig gemacht und durch sie verstärkt wird, arbeitet Martina Althoff heraus, dass der Blick auf Diskriminierungspotenziale im Strafrecht sich nicht nur auf das Geschlecht beschränken sollte. Die kriminologische wie feministische Forschung sollte durch umfassende Analysen sichtbar machen, wie verschiedene Formen sozialer Ungleichheit sich gegenseitig verstärken - aber ebenso ausgehebelt werden können. Das Wissen aus solchen Untersuchungen könnte dem Strafrecht und den Gerichten dazu verhelfen, die Maxime der Gleichbehandlung in die Spruchpraxis umzusetzen, gerade über das Aufzeigen der Differenzen und deren Bewusstmachung - bis es annähernd stimmt, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. (bto/dieStandard.at, 27.9.2010)