Bei den "Purity Balls" versprechen Väter und Töchter einander, gemeinsam alles zu tun, damit das Mädchen bis zur Ehe keusch bleibt.

Foto: ican films gmbh

Vater Randy segnet seine Tochter Jordyn vor dem Weihnachtsbaum.

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Linda Kay Klein bloggt und schreibt darüber, was die "Purity"-Bewegung mit ihren Frauen macht.

Foto: Linda Kay Klein

Die Töchter der Familie Wilson aus Colorado Springs wissen, wie man sich als gute evangelikale Christin verhält: Bückt man sich, sollte weder zu viel Hintern noch zu viel Busen zu sehen sein. Beim Videoabend sind Sexszenen tunlichst vorzuspulen – man könnte sonst auf falsche Gedanken kommen. Sex ist, sofern außerhalb ehelicher Kontexte, für evangelikale Christen ein sehr falscher Gedanke. Den verschiedenen religiösen Strömungen, die sich als evangelikal bezeichnen, ist eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus und die Berufung auf die unfehlbare Autorität der Bibel gemein. Homosexualität wird ebenso als Sünde angesehen wie Sex vor der Ehe.

Filmemacherin Mirjam von Arx hat Familie Wilson für ihren Dokumentarfilm "Virgin Tales" zwei Jahre lang begleitet. Ihr Interesse ist berechtigt: Evangelikale ChristInnen stellen in den USA heute ein Viertel der Bevölkerung, die evangelikale ist eine der weltweit am schnellsten wachsenden christlichen Bewegungen. Auch Sarah Palin, ultrakonservative Politikerin der Tea-Party-Bewegung, gehörte bis 2002 der Pfingstbewegung an – die theologisch ebenfalls in der Tradition des Evangelikalismus steht. 

Bemühen um körperliche und seelische Reinheit

Hört man den fünf Wilson-Töchtern, ihren beiden Brüdern und den Eltern zu, wird deutlich, wie elementar in diesen Communitys das Bemühen um seelische und körperliche Reinheit ist. Den ersten Kuss gibt es vor dem Traualtar. Schon sich zu verlieben oder sexuelle Gedanken zu haben ist eine Sünde. Auch die vermeintlich göttliche Rollenaufteilung zwischen den Geschlechtern ist strikt zu befolgen: Während der Mann zum "Ritter", zum Führer seiner Frau bestimmt ist, hat diese sich ihm zu unterwerfen. Berufstätigkeit ist im Leben dieser Frauen nicht vorgesehen. Khrystian Wilson (24) etwa ist glücklich, ihre Tage zu Hause verbringen zu können, um es für Ehemann Chad schön herzurichten. Auch Schwester Jordyn (23) verzichtet gerne auf Ausbildung oder Studium – lieber hat sie die "School of Grace" aufgebaut, in der sie anderen Frauen Anstandsunterricht gibt.

Die Wilson-Familie hat eine Vorreiterrolle inne, was die in den USA bekannte Purity-Bewegung betrifft – eine Glaubensrichtung, in der die sexuelle Reinheit eine zentrale Rolle spielt. Vater Randy ist Gründer der "Purity Balls": Mädchen, die bisweilen nicht älter als vier Jahre sind, tanzen hier im Abendkleid mit ihren Vätern und legen feierlich einen Schwur ab. Gemeinsam werde man alles dafür tun, dass das Mädchen bis zur Ehe keusch bleibe. Ein reichlich anachronistisches Konzept, dem sich Mirjam von Arx in ihrem Film zwar zweifelnd, aber immer respektvoll nähert.

Regeln für gute Mädchen

Während die Schweizer Regisseurin sich aus einer europäischen Außenperspektive mit den Geboten der evangelikalen ChristInnen auseinandersetzt, tut die US-Amerikanerin Linda Kay Klein das aus einer diametral anderen Sichtweise. Sie hat Religionswissenschaften und kreatives Schreiben an der New York University studiert und ist am Projekt "Our Inner Lives" der feministische Website Feminist.com beteiligt, das sich mit Religion und Spiritualität beschäftigt. Vor allen Dingen aber kennt sie den Kampf mit dem eigenen Körper aus eigener Erfahrung: Sie ist selbst als evangelikale Christin aufgewachsen, erzählt sie dieStandard.at.

In ihrem Buchprojekt "Man-Made Girls" fragt sie nach dem Konzept von Sex und Gender in der evangelikalen Kirche und nach deren Phantasma von der "ewigen Mädchenzeit". In Gesprächen mit (ehemaligen) evangelikalen Frauen will sie dabei herausfinden, was die Gebote der Kirche mit den Körpern und Selbstbildern der Frauen machen. Ihre Einschätzung: "Von Kindheit an haben sie Regeln dafür bekommen, wie man sich zu einer 'guten' Frau entwickelt. Man könnte auch sagen: Regeln dafür, nicht erwachsen zu werden."

Diese Regeln basieren laut Klein auf Naivität, dem Glauben an die liebende Führung der Männer und auf Asexualität – lediglich im Bett mit ihrem eigenen Ehemann werde von der Frau plötzlich erwartet, zur "Tigerin" zu werden. Ansonsten müssten die Frauen sich ihre kindlichen Qualitäten erhalten, um für Männer weniger bedrohlich zu sein. Davon hänge die Akzeptanz in einer Gemeinschaft ab, die selbstbewussten Frauen, die sich mit ihrer Sexualität wohlfühlen, zutiefst misstraue.

Kindisches Benehmen und hohe Stimme

Wie gut dieser Drill funktioniert, kann man in von Arx' Film sehen, wenn die Mädchen der Familie Wilson (die übrigens zu Hause unterrichtet werden) ihre Lehrsätze in die Kamera sprechen wie gelehrige Schülerinnen. Bereits die neunjährige Kaalyn sagt brav ihr Sprüchlein auf: "Wenn ein Mädchen sich aufreizend kleidet, in Bars herumsitzt und mit allen mitgeht – dann wollen die Männer es erobern. Wenn ein Mädchen aber besch..., besch... (hier müssen die Eltern aushelfen: 'bescheiden', Anm.), wenn ein Mädchen aber bescheiden ist, gottesfürchtig und sich auch so kleidet, dann wollen die Männer es beschützen." Die Frauen spielen Mädchen, um sich den Beschützerinstinkt zu erhalten.

Dieses "Girling", sagt Linda Kay Klein, funktioniert, indem sie ihre Stimme höher schrauben, sich mädchenhaft kleiden und kindisch benehmen. Auf lange Sicht sei das ein Problem, denn: "Am Ende kann keine Frau für immer Regeln für kleine Mädchen befolgen." Auch ihre Interviewpartnerinnen würden ein Selbstbewusstsein entwickeln, anfangen über Sex nachzudenken oder gar welchen zu haben. "Aber im Gegensatz zu Frauen, die in egalitären Gesellschaften aufgewachsen sind, sind sie nicht stolz auf diese Entwicklungen. Stattdessen sehen sie ihre Fortschritte als Sünden, weil man ihnen das ihr ganzes Leben lang beigebracht hat. Im Laufe meiner Interviews sind mir viele Formen von Selbstbestrafung untergekommen – dafür, dass man erwachsen geworden ist."

Sichere Gemeinschaft

Den Frauen wird sukzessive Verachtung, sogar Hass auf ihren Körper und ihre Gefühle eingeimpft. Kann man sich in einer solchen Umgebung überhaupt wohl- und zu Hause fühlen? "Was ich geliebt habe", erinnert sich Linda Kay Klein, "war der gesicherte Raum, den man hatte, um seine Gefühle auszudrücken. Du kannst weinen, du kannst lachen, du kannst deine Arme in die Luft werfen, du kannst aus vollem Herzen singen. An den säkularen Orten, an denen wir uns sonst aufhalten, dürfen wir nicht zu emotional erscheinen. Dort aber kannst du alle Vorsicht in den Wind schlagen und einen Fremden umarmen – einfach weil du gerade eine Umarmung brauchst. Das vermisse ich."

Sie erzählt von dem Gemeinschaftssinn in der Kirche, von Menschen, die jeden Abend Essen bringen, als bei der Mutter Multiple Sklerose diagnostiziert wird. "Die Art von Gemeinschaft, die dir das Gefühl gibt, dass du wirklich wichtig bist. Denn das bist du."

Vereinnahmungsversuche der Tea Party

Die Werte dieser Gemeinschaft sollen auch über die Kirchengemeinde hinaus verbreitet werden. Familienvater Randy Wilson etwa setzt sich im Family Research Council dafür ein, dass seine religiösen Überzeugungen nicht nur medial und in Schulen verbreitet werden, sondern auch Einfluss auf die Gesetzgebung bekommen. Nicht umsonst sehen die Wilson-Mädchen aus wie ganz normale All-American Girls – man will den Glauben in der Mitte der Gesellschaft verankern. Schnell bekommt man den Eindruck, evangelikaler Glaube und rechtskonservative Überzeugung gehörten zusammen. Das jedoch entlarvt Linda Kay Klein als bloße Propaganda: "Die Tea-Party-Bewegung hat viel Zeit und Geld investiert, um die amerikanische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass diese riesige Glaubensgemeinschaft mit ihrer politischen Ideologie übereinstimmt." Tatsächlich seien in der evangelikalen Kirche alle möglichen politischen Richtungen vertreten.

Ungeachtet der politischen Überzeugung ihrer Mitglieder scheint die kirchliche Gemeinschaft einen Schutzraum zu bilden in einer zunehmend individualisierten Welt, die als kalt und fordernd empfunden wird. Das dialektische Versprechen der Kirche lautet: Wir lieben dich so, wie du bist – solange du dich dabei an unsere Regeln hältst.

Für viele scheint das ein guter Halt im Leben zu sein, nicht nur in den USA. Auch in Europa seien die Purity-Bewegung und die dazugehörigen Bälle längst angekommen, meint von Arx. Linda Kay Klein sieht die Sache differenzierter. Die evangelikale Kirche würde sich zwar sehr darum bemühen, ihre Gedanken und Überzeugungen zu verbreiten, eine steigende Bedeutung der Kirche sehe sie aber – zumindest in den USA – nicht. Ob sie nun jedoch um sich greift oder nicht: Die evangelikale Kirche ist mehr als eine fragwürdige Randerscheinung. Gerade weil sie eine Gegenbewegung ist, sagt sie auch viel über die Welt aus, in der wir leben. (Andrea Heinz, dieStandard.at, 30.1.2014)