Marina Sorgo: "Viele Eltern leben selbst in arrangierten Ehen und sagen: 'Wir haben uns auch lieben gelernt'".
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Jedes Jahr im Herbst kehren viele junge MigrantInnen von ihren Heimaturlauben zurück – und sind plötzlich mit Fremden verheiratet. Die Expertinnen des Grazer Gewaltschutzzentrums erzählen im Interview mit die Standard.at, wie oft sie es mit zur Ehe Genötigten zu tun haben und was die Motive der Eltern sind.

dieStandard.at: Zwangs- und arrangierte Ehen – ein von den Medien aufgeblasenes Phänomen?

Marina Sorgo: Nein. Fast keine der Migrantinnen, mit denen ich im Lauf der Jahre zu tun hatte, hat aus Liebe geheiratet. Das Thema ist überhaupt nicht neu, aber erst seit wenigen Jahren sieht man dabei einen Handlungsbedarf. Früher kamen die Frauen nicht deswegen zu uns, sondern weil es zu Gewalt gekommen ist – häusliche Gewalt und Zwangsehe hängen eng zusammen. Heute kommen sie auch 'nur' wegen der Zwangsverheiratung. Sehr oft hören wir: 'Ich bin im Sommer in die Heimat gefahren und verheiratet wieder zurückgekommen.'

dieStandard.at: Wer ist betroffen, und wie groß ist das Ausmaß?

Gabriele Hasenberger: Das Ausmaß können wir nicht nennen, aber die Dunkelziffer ist sicher äußerst hoch. Involviert sind hier im deutschsprachigen Raum vor allem Familien aus der Türkei, Albanien und dem Kosovo. Betroffen sind Mädchen und Buben, allerdings mehr Mädchen und bereits in jüngerem Alter.

dieStandard.at: Prinzipiell gilt es ja zwischen arrangierten und tatsächlich erzwungenen Ehen zu unterscheiden ...

"Die Grenzen zwischen 'nur' arrangierten und Zwangsehen sind fließend"

Sorgo: Ja, bei arrangierten Ehen wird der oder dem Jugendlichen gesagt: 'Du bist jetzt im Heiratsalter, es gibt da jemanden, die beiden Familien verstehen sich gut' und dergleichen. Dann sagen viele zwar Ja – aber nur, weil sie eigentlich keine andere Option haben. Sie wollen und dürfen ihre Familien nicht in Schwierigkeiten bringen und die Ehre der anderen Familie nicht verletzen. Die Grenzen zwischen 'nur' arrangierten und Zwangsehen sind fließend.

dieStandard.at: Was sind die Motive der Eltern, warum tun sie ihren Kindern das an?

Hasenberger: Es geht stark um die Ehre. Jungfräulichkeit bis zur Ehe gilt bei den Mädchen als höchstes Gut. Und je jünger eine verheiratet wird, desto eher kann dieses sichergestellt werden. Wir hatten es schon mit Frauen zu tun, die mit dreizehn oder vierzehn verheiratet wurden. Wobei das Geburtsdatum von Mädchen, die nach Österreich geholt werden, oft gefälscht wird, sie werden älter gemacht. Von den türkischen Behörden. Ich habe selbst offizielle Schreiben gesehen, in denen zu lesen war: Am soundsovielten des Jahres X wurde das Geburtsdatum des Mädchens Y geändert.

Sorgo: Oft wird ein Mädchen dann verheiratet, wenn es seinen ersten Freund hat. Dann ist die Jungfräulichkeit in Gefahr, und es muss schnell gehandelt werden.

Hasenberger: Oft denken die Eltern auch: Die Westeuropäer nehmen das alles ja nicht so genau. Und sagen: Wenn du einen aus unserem Heimatort nimmst, wird er dich sicher nicht verlassen.

"Besonders bei Söhnen setzen Eltern die Ehe als Disziplinierungsmaßnahme ein"

Sorgo: Viele Eltern leben ja selbst in arrangierten Ehen und sagen: 'Wir haben uns auch lieben gelernt.' Besonders bei Söhnen setzen Eltern die Ehe als Disziplinierungsmaßnahme ein, wenn sie das Gefühl haben, er komme vom rechten Weg ab – dann hat er Verantwortung und eine eigene Familienehre zu verteidigen. Oft sind die Gründe aber auch wirtschaftliche, Armut – jemand will durch Heirat in ein anderes Land gelangen.

dieStandard.at: Wie geht es Mädchen, die die Heirat verweigern?

Sorgo: Sie müssen nicht nur mit Schuldgefühlen kämpfen, sondern außerdem völlig mit der Familie brechen – und meist auch mit dem gesamten sozialen Umfeld. Das durchzustehen ist den wenigsten möglich – auch mit noch so viel Unterstützung. Sie müssen ja ihre ganze Identität, ihr ganzes Leben in Frage stellen. Auch wenn wir das Gefühl haben, eine hat es geschafft, ist es für sie selbst oft nicht befriedigend.

dieStandard.at: Wie sollte Prävention aussehen?

Hasenberger: Die Jugendlichen sollten an den Schulen aufgeklärt werden, dass es sich bei Zwangverheiratungen um familiäre Gewalt handelt und nicht Teil von Tradition oder Religion sind. Vor allem aber müsste man mit den MigrantInnenorganisationen arbeiten. Wenn dort jemand, der eine Frau schlecht behandelt, nicht als Märtyrer hochgelobt, sondern geächtet wird, dann ist der Sinn des Festhaltens an der Ehre nicht mehr gegeben.

dieStandard.at: Zum Umgang der Justiz mit dem Thema: Im Grazer Frauenhaus wird kritisiert, dass die Strafen für Ehenötigungen oft im niedrigeren Bereich des Möglichen bleiben.

Sorgo: Das ist richtig. Ein Grund dafür liegt darin, dass sich die Frauen oft nicht getrauen, die ganze Wahrheit auszusagen. Sie wollen ja nur ihre Ruhe haben, aber nicht, dass ihre Eltern ins Gefängnis kommen. Allerdings werden Gewalttaten auch oft, wenn ein Paar noch verheiratet ist, als private Scheidungsgeschichten verharmlost.

dieStandard.at: Im Frauenhaus beklagt man auch, dass die Opfer bei Gericht oft im Beisein aller Angeklagten – der Familie, des Ehemanns – aussagen müssen. Dabei sieht das Gesetz für Gewaltopfer eine schonende Einvernahme vor.

Sorgo: Ja, das funktioniert oft noch nicht – in letzter Zeit wird es aber besser.

dieStandard.at: Wie gut gehen generell andere Behörden mit dem Thema um?

"Es bedarf noch mehr Aufklärung bei Behörden, der Kripo, Gerichten"

Hasenberger: Die Zusammenarbeit mit uns funktioniert immer öfter hervorragend. Allerdings bedarf es schon noch mehr Aufklärung, egal ob beim Jugendamt oder anderen Behörden, bei der Kripo oder den Gerichten.

dieStandard.at: Die Wiener Grün-Gemeinderätin Alev Korun fordert ein eigenes Frauenhaus für Betroffene von Zwangsehen.

Hasenberger: Ja, es sollte in Österreich zumindest ein spezielles Haus dafür geben, das sowohl Wohnmöglichkeit als auch intensive Betreuung bietet. Und Opferschutzeinrichtungen für von Zwangsheirat Betroffene sollen nicht von den Ländern finanziert werden, sondern vom Bund, weil es gerade für diese Frauen wichtig ist, dass sie auch in anderen Bundesländern Schutz finden können. (Die Fragen stellte Gerlinde Pölsler, die Standard.at, 7.10.2007)