Judith Godrèche.
Judith Godrèche.
APA/AFP/LOU BENOIST

Die erste große #MeToo-Welle im Jahr 2017 wurde in Frankreich besonders ambivalent aufgenommen. Von sehr prominenter Seite gab es rasch und viele Stimmen, die vor allem die Gefahr falscher Diffamierung und ein angebliches Ende der sexuellen Freiheit in den Vordergrund stellten. Die französische Schauspielerin Catherine Deneuve und weitere Frauen warnten damals etwa in einem offenen Brief vor einem "Klima einer totalitären Gesellschaft". Der Brief verteidigte "eine Freiheit, jemandem lästig zu werden", denn die sei für sexuelle Freiheit "unerlässlich".

Viele sehen es wohl anders, denn trotz solcher prominenten Einwände sind in Frankreich Debatten über sexualisierte Übergriffe, Gewalt oder auch Sexismus seit Jahren kontinuierlich präsent. Und auch die ambivalente Haltung, sei es in der Politik, sei es im Kulturbetrieb, ist geblieben.

Aktuell sorgt ein Bericht der Schauspielerin Judith Godrèche (51) für eine Neuauflage der Debatte. Die heute 51-Jährige sprach schon früher über ihre Geschichte, die sie im Alter zwischen 14 und 20 Jahren erlebt hatte. Vor kurzem nannte Godrèche auch den Namen jenes Mannes, mit dem sie als 14-Jährige eine Beziehung begann: Es ist der Regisseur Benoît Jacquot, damals 25 Jahre älter als sie.

Was heißt "Einverständnis"?

Die französische Tageszeitung "Le Monde" berichtete nun gleich in mehreren Artikeln über den "Fall Godrèche". Bei einem Casting lernte die damals 14-Jährige den 39-jährigen Regisseur kennen. Er ging mit ihr ins Kino, holte sie von der Schule ab und nannte sich ihr gegenüber "pervers" – ein Wort, das sie damals nicht einmal kannte.

Ihre Eltern "schauten weg", wie es die "Süddeutsche" in einem Bericht über die Geschichte von Godrèche formuliert. Sie unterschrieben sogar eine Vollmacht, dass Jacquot über ihre Gagen, die die Minderjährige verdiente, verfügen könne. Er soll sie kontrolliert, geschlagen und vergewaltigt haben. Der heute 77-jährige Jacquot bestreitet die Vorwürfe, Gewalt sei nicht im Spiel gewesen, alles sei in im Einverständnis mit ihr geschehen.

Machtgefälle

In Interviews wird Godrèche immer wieder darauf angesprochen. Und sie antwortet mit der Gegenfrage, ob ein 14-jähriges Mädchen wisse, was Einwilligung heiße. Die Frage ist nicht nur vor dem Hintergrund des großen Alternsunterschieds relevant, sondern auch angesichts einer 14-jährigen Schülerin und eines Mannes, der über hohes symbolisches Kapital verfügt und Anerkennung und Bewunderung genießt – Letzteres aufseiten vieler schier bedingungslos.

Denn Jacquot selbst machte kein Geheimnis daraus, sexuelle Kontakte zu jungen Mädchen, viele Jahrzehnte jünger als er selbst, haben zu wollen, und sprach in Interviews auch darüber. Etwa, dass er neurotisch "von der Jugend besessen sei".

Nach sechs Jahren konnte Godrèche sich aus dieser Beziehung befreien. In ihrer Miniserie "Icon of French Cinema" (DER STANDARD berichtete) verarbeitete Judith Godrèche das Erlebte, allerdings noch anonymisiert.

Laut Recherchen von "Le Monde" war Godrèche jedenfalls nicht die Einzige. Es gab in Jacquots Leben noch weitere Mädchen oder sehr junge Frauen, sie sprachen nun auch aus Solidarität mit Godrèche mit der Tageszeitung.

Die Geschichte von Judith Godrèche ähnelt in vielerlei Hinsicht einer anderen, die Frankreich ebenfalls sehr beschäftigte. 2020 veröffentlichte die Publizistin Vanessa Springora das Buch "Die Einwilligung", in dem sie von ihrem Verhältnis zu dem 50-jährigen Schriftsteller Gabriel Matzneff erzählt. Springora selbst spricht von "Beziehung" oder "Verhältnis". Beziehung oder sexualisierte Gewalt? Springora geht in dem Buch der Frage der Möglichkeit von Konsens angesichts eines enormen Machtgefälles nach. Wer ist befähigt, selbstbestimmt Ja sagen zu können, wenn er ein 50 Jahre alter gefeierter Star des Literaturbetriebs ist und sie – wie Judith Godrèche – zu Beginn ein 14-jähriges Mädchen? Springora nimmt sowohl ihre eigene "Einwilligung" in den Blick als auch das Zusehen ihrer Mutter und einer ganzen Literatur- und Kunstszene. Für die ist dies sogar ein willkommener Tabubruch, Kritik daran wird als Prüderie abgetan.

Prominenter Beistand

Mitte der 1970er-Jahre veröffentliche Gabriel Matzneff das Buch "Die unter 16-Jährigen", in dem er über seine sexuelle Neigung schrieb – für Mädchen und Jungen. 1977 veröffentlichte "Le Monde" einen offenen Brief von Matzneff, in dem er sich für drei Männer einsetzte, die wegen sexuellen Missbrauchs von 13- und 14-jährigen Kindern inhaftiert waren. Andere Prominente unterschrieben ihn, darunter Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Gilles Deleuze und Roland Barthes. Viele Verlage und Akteur:innen des Literaturbetriebs hielten bis vor wenigen Jahren an den Publikationen und Veröffentlichungen von Matzneff fest. Erst mit Spingoras Buch fand vielerorts ein Umdenken statt.

#MeToo ist in Frankreich aber vor allem aufgrund der Vorwürfen gegen den berühmtesten Schauspieler des Landes angekommen. Gegen Gérard Depardieu laufen seit 2020 Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung. Die Schauspielerin Charlotte Arnould wirft ihm vor, sie 2013 in seiner Wohnung zweimal vergewaltigt zu haben. Seit Herbst 2023 sind zwei weitere Klagen wegen sexueller Übergriffe hinzugekommen. Es gibt zudem zahlreiche Vorwürfe anderer Frauen. Depardieu weist alle Anschuldigungen zurück. Doch die Debatte darüber, wie man mit dem Nationalhelden nun umgehen soll, gibt es nicht nur wegen strafrechtlich relevanter Vorwürfe. Die Dokumentation "Der Fall des Ungeheuers" (2023) zeigt ihn als sexistisch polternden Mann. Er sexualisiert darin junge Mädchen oder sagt Sätze wie: "Ich als großer Jäger werde immer entdecken, was sich nicht zeigen will." Die Doku deckt unzählige sexistische Kommentare und Verhaltensweisen des Schauspielers auf.

Eine "Menschenjagd"

Frankreichs Präsident und unzählige andere halten Depardieu jedoch trotzdem die Stange. Emmanuel Macron antwortete auf die Frage einer Moderatorin, ob sich Frankreich für Depardieu schämen müsse, mit Bestürzung. Er bewundere das "Genie seiner Kunst". Der Präsident sprach außerdem von einer "Menschenjagd" auf Depardieu, an der er niemals teilnehmen werde. Und knapp 60 Künstler:innen setzen in einem offenen Brief den Verzicht auf Depardieu im französischen Film mit dem "Tod der Kunst" gleich.

Ander sieht es hingegen die französische Kulturministerin Rima Abdul Malak. Sie bezeichnete Depardieus Verhalten gegenüber Frauen als "Schande für Frankreich" und forderte seinen Ausschluss aus der Ehrenlegion, in die Depardieu 1996 vom damaligen Präsidenten Jacques Chirac aufgenommen worden war.

Die Positionen gehen somit in Frankreich weiterhin weit auseinander, sei es in der Frage, wo Sexismus beginnt, sei es in der Frage, wann sexualisierte Übergriffe verurteilt werden sollen – und ob die Kunst und das "Genie" generell von derlei Urteilen befreit sein sollten. Doch etwas näher ist man sich in der Frage von "Einvernehmlichkeit" gekommen – und darin, dass das Wort "Einwilligung" zwischen einer 14-Jährigen und einem Jahrzehnte älteren Mann als Erklärung längst nicht mehr reicht. (Beate Hausbichler, 13.2.2024)