Andrea Seier ist seit 2010 Universitätsassistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medien- und Kulturtheorie, Medien als Technologien des Selbst sowie Gender und Medien.

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Fernsehen und seine verschiedensten Formate werden oftmals grundsätzlich als problematisch oder "verblödend" betrachtet, wovon nicht zuletzt der grassierende Begriff "Unterschichtenfernsehen" zeugt. So wie weniger privilegierte Menschen werden auch Frauen gerne als Seherinnen von "Schund" - vom Schmachtfetzen bis zur Soap Opera - identifiziert. Fakt ist aber, dass es alles andere als Klarheit darüber gibt, wer vor den Programmen sitzt, erklärt Medienwissenschafterin Andrea Seier. Mit ihr sprach Beate Hausbichler über die generelle Abwertung von Fernsehen aufgrund der Tatsache, dass es im Haushalt stattfindet, über sexistische Reality-Formate und warum KulturkritikerInnen diese ganz gut brauchen können.

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dieStandard.at: Wenn wir an Formate wie "Germany's next Topmodel" oder "Die Lugners" denken, entsteht der Eindruck, als ob es nie eine Frauenbewegung gegeben hätte. Können wir von dem Boom solcher Formate auf einen anti-feministischen Zeitgeist schließen? 

Andrea Seier: Die Zeit-Autorin Miriam Lau hat sich diese Frage kürzlich auch gestellt. Sie schreibt, dass ihre 14-jährige Tochter so gern "Germany´s next Topmodel" schaut, und fragt sich, wie sie mit dieser Situationen umgehen soll: Die Tochter einer Feministin hat kein Problem mit einem solchen Format! Soll sie es verbieten, weil sie selbst darin ein problematisches Frauenbild sieht?

Lau meint, dass eines sicher sei: Sie sieht etwas anderes als ihre Tochter. Sie sieht Erniedrigung, die Tochter sieht schöne Kleider, sie sieht eine sadistische Jury, die Tochter sieht schöne Schuhe. Ihre Tochter kann somit das, was ihr gefällt, von erniedrigenden Aspekten abkoppeln.
Ich denke aber schon, dass es zur Zeit einen Backlash gibt, jedenfalls in dem Sinne, dass es eine Zeit gegeben hat, in der sexistische Weiblichkeitsentwürfe stärker tabuisiert waren.

dieStandard.at: Könnte man den Umgang dieser jungen Frau mit solchen Formaten auch als neue Medienkompetenz deuten?

Seier: Ja, das könnte ein Argument sein bzw., dass es eine andere Form der Medienkompetenz ist. Ich bin da ambivalent, denn ich sehe in diesen Formaten auch vor allem die Erniedrigung. Ich habe aber dennoch Schwierigkeiten mit einer Art von Kulturkritik, die meint, die jüngere Generation wisse nicht um ihre Ausbeutung. Im Zuge einer solchen Kritik sagt eine ältere über eine jüngere Generation, dass sie nicht mehr so politisch sei und nicht unsere Erwartungen erfülle.

dieStandard.at: Sie meinen, die jungen Konsumentinnen registrieren den Sexismus und die Zwänge, die in Formaten wie "Germany´s next Topmodel" verkommen, sehr wohl?

Seier: Ich denke schon, dass viele, wenn auch nicht alle, das sehen. Sie koppeln das aber von dem ab, was unsere Generation als Ideologien beschrieben hat. Feminismus hat mit einem bestimmten Blick auf die Gesellschaft zu tun, oder mit Utopien, wie eine Gesellschaft aussehen könnte. Heute herrscht aber etwas vor, was wir als Pragmatismus beschreiben könnten. Die jüngere Generation rezipiert diese Formate ganz anders.

Wenn ich aber einfach behaupte, dass die Zuschauerinnen die Erniedrigungen nicht erkennen, kommt es zu einer Verdoppelung: mit dieser Behauptung wird die These von unmündigen Zuschauerinnen doch eher unterstützt als unterlaufen: Sie liefern sich solchen Formaten aus, und sie wissen es nicht mal. Vielleicht wissen sie es sehr wohl, haben aber einen anderen Umgang damit.

dieStandard.at: Diese Art der Kulturkritik, wie Sie sie kritisieren, setzt ja auch voraus, dass es für Konsumentinnen von Qualitätsfernsehen keinerlei Unterdrückungsmechanismen gäbe.

Seier: Genau. Nochmal zu Miriam Lau: Sie kommt zu dem Schluss, dass sie ihrer Tochter "Germany´s next Topmodel" nicht verbieten muss, weil sie zur Mittelschicht gehört und daher sehr gute Chancen auf einen entsprechenden Bildungsweg hat. Die größere Gefahr solcher Formate sieht sie für die Protagonistinnen dieser Sendungen, die sie als Frisörinnen oder Migrantinnen identifiziert. Die hätten ja nicht die Chancen, die ihre Tochter hat und würden daher dieser falschen Idee nachhängen, anstelle der Anstrengungen in der Schule doch einfach ihr Glück in einem dieser Fernsehformate zu versuchen, um so zu einer Karriere zu kommen. Da landet Lau auch schnell bei einer Verwahrlosungsthese: Die Eltern dieser Protagonistinnen hätten verabsäumt zu erklären, dass man sich für ein gelungenes Leben einsetzen muss, statt auf solche Shows zu setzen.

Dagegen muss man aber sagen: Der Sexismus solcher Formate betrifft alle. Und wenn es um die Verbreitung von Frauenbildern geht, sind nicht nur jene betroffen, die Frau Lau als Frisörinnen beschreibt. Natürlich ist die Mittelschichtstochter auch betroffen, vielleicht in einem anderen Kontext und auf andere Weise - aber es betrifft sie.

dieStandard.at: Bei Reality-Formaten stellt man sich schon die Frage nach den Grenzen. Wann ist der Punkt erreicht, an dem die Öffentlichkeit oder auch das Gesetz in die gezeigten Erniedrigungen eingreift?

Seier: Eingriffe werden vermutlich eher auf der Basis von Einschaltquoten vorgenommen als auf der Basis von Empörungen. Es gibt aber eine Form der kulturkritischen Distanzierung gegenüber solchen Formaten, der der Verweis auf die Trivialität des Fernsehens ganz gelegen kommt. Kulturkritik nobilitiert sich mit dieser Abgrenzung und umgekehrt gilt das gleiche. Programmchefs von Privatsendern grenzen sich von allzu normativen bürgerlichen Vorstellungen eines gelingenden Lebens mit dem Hinweis ab, dass sie die "Leute" und ihre alltäglichen Probleme ernst nehmen. Es geht somit nicht um ein Eingreifen, sondern im Gegenteil: Die brauchen sich gegenseitig.

dieStandard.at: Bei der von Ihnen organisierten Tagung "Fernsehen - Agentur des Sozialen" (dieStandard.at berichtete: Tagung - Wie die Unterschicht ins Fernsehen kam) ging es sehr viel um die Distanznahme zu anderen - weniger privilegierten - sozialen Schichten, anhand eines spezifischen Fernseh- oder Kulturkonsums. Das passiert aber doch auch mit der Zielgruppe Frauen: Formate, die für Frauen gemacht werden, erfahren doch eine extreme Abwertung, oder?

Seier: Da gibt es eine ganz eindeutige medienhistorische Dimension: Neue Medien wurden immer mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht. Denken Sie etwa an die Groschenromane. Sie wurden als Verführungsmedium für Frauen klassifiziert, von dem aus Gefahr droht. Diese Einschätzung stand mit den Leserinnen ganz eng in Verbindung. Oder beim frühen Kino - genau die gleiche Situation. Die Männer waren im Krieg, und Frauen wurden in dieser Zeit zum Zielpublikum. Mit der bewussten Adressierung von Frauen sind auch ganze Genres entstanden, z.B. der Weepie (Anm.: Schmachtfetzen) als "Frauenfilm". Die Entstehung dieser Genres war aber zugleich ein Argument, auch das Kino als Medium abzuwerten und als gefährlich, verführend oder manipulativ einzustufen.

Es gibt Analysen, die sich genderspezifische Rezeptionsformen angesehen haben. Durch teilnehmende Beobachtungen in Familien hat sich Fernsehen als eine Technologie gezeigt, die im Haushalt stattfindet, während parallel auch andere Tätigkeiten wie Essen oder Hausaufgaben erledigen usw. stattfinden. Die Frage, wer sitzt gerade vor dem laufenden Programm, wird oftmals ganz situativ entschieden. So sitzt dann letztlich vielleicht die Mutter mit dem Sohn vor der Sendung, die der Vater eingeschaltet hat. 

dieStandard.at: Aber durch die Werbung, die vor oder während einer Sendung ausgestrahlt wird, wird doch klar, wer zuschaut. 

Seier: Durch die Werbung sehen wir nur, dass von einer Annahme über die SeherInnen ausgegangen wird. Aber viel mehr kann man nicht daraus ableiten. Das Fernsehen hat natürlich ein großes Interesse an dem Wissen, wer welches Programm sieht, aber diese Annahmen lassen sich nur sehr schwer verifizieren. 

Die Medienwirkungsforschung benennt hingegen sehr wohl bestimmte SeherInnen. Ich habe dabei aber das Problem, dass sie schon mit einer Unterstellung oder mit einer gegebenen Geschlechterdifferenz arbeitet. Diese werden oft schon in der Anlage der Studie wiederholt. Zum Beispiel wird nachgefragt: wie reagieren Männer auf Gewalt im Fernsehen, wie reagieren Frauen? Das sind Datenerhebungen, die in Labors erhoben werden und bei denen es schwierig ist, sie so zu realisieren, dass sie repräsentativ sind. 

In dieser Art der Medienforschung ist auch oft schon angelegt, dass Fernsehen etwas Problematisches ist. Ich versuche mich dem Fernsehen als eine existierende Technologie zu nähern, die auf andere Alltagstechniken trifft, und gehe nicht von der Annahme aus, dass wir es beim Fernsehen mit einem prinzipiell problematischen Medium zu tun haben. In diesem Sinne interessieren mich die Sprechweisen über Medien und wie man aus diesem engen Bewertungsmuster, von denen diese Sprechweisen zeugen, herauskommt.

dieStandard.at: Woher kommt dieser ausgeprägte Wille zur Abgrenzung gegenüber dem Medium Fernsehen? 

Seier: Die Uneindeutigkeit und Heterogenität des Fernsehens scheint eine große Rolle zu spielen. Nicht nur existieren unterschiedliche Programmangebote, anspruchsvolle und weniger anspruchsvolle, nebeneinander. Auch das Publikum des Fernsehens ist letztlich sehr viel heterogener als z.B. das Kinopublikum. Die feministische Fernsehforschung hat darüber hinaus gezeigt, dass die Abwertung des Fernsehens auch mit seiner traditionellen Platzierung im Haushalt und im Privaten verknüpft ist. Es ist viel weniger mit einer aufmerksamen Betrachtung als mit einer flüchtigen Rezeption konnotiert, die andere Tätigkeiten nicht ausschließt. 

dieStandard.at: Sie haben die Heterogenität von Fernsehen angesprochen. Geht diese über den Konsum von Serien im Netz oder auf DVDs nicht verloren? Früher haben viele im selben Programm die gleiche Serie konsumiert, die anschließend am Arbeitsplatz oder in der Schule diskutiert werden konnte. Heute kann ich entscheiden, welche Serie ich sehe, wie viele hintereinander und auch wie ich sie konsumiere. So ist etwa die Möglichkeit im Originalton zu konsumieren, stets ein großes Thema: Jene, die nur die Synchronisation konsumieren (können), würden diverse humoristische Feinheiten verpassen. 

Seier: Ja - hier findet eine Verschiebung auf einen individualisierten Zugriff hin statt. Dabei lässt sich wieder die Problematisierung von Vermassung oder Standardisierung beobachten. Man hält diesen individuellen Zugriff für selbstbestimmter, was ich aber in Frage stellen würde. Es können dadurch aber schon auch neue Möglichkeiten ins Auge gefasst werden. Bei der Adressierung von Gemeinschaften hatten wir es bisher mit nationalen Gemeinschaften zu tun. Wenn sich aber über bestimmte Formate Fan-Kulturen generieren, die nationale Kontexte weit überschreiten, können neue gemeinschaftsbildende Prozesse stattfinden, die nicht mehr an Nationalkulturen gebunden sind. 

Durch die neuen Möglichkeiten des Zugriffs zeigt sich auch, dass die Problematisierung von z.B. Reality-Fernsehen mit einer traditionellen Idee von Fernsehen arbeitet: Dieses Fernsehen würden jene konsumieren, die dem Massenmedium ausgeliefert sind. Die KonsumentInnen von Quality-Fernsehen, die sich ihre Sendungen selbst beschaffen, gelten hingegen als mündige ZuschauerInnen, weil sie Geschmack haben, sie haben ausgewählt und sehen nur, was sie sehen wollen. Die anderen hingegen sehen einfach fern. (Die Fragen stellte Beate Hausbichler, dieStandard.at, 7. Juli 2011)