Mindestens jede fünfte Frau in Österreich erlebt in ihrer Partnerbeziehung körperliche und/oder sexuelle Gewalt.

Foto: Ausstellung "Hinter der Fassade"

"Hinschauen und handeln statt auf dem Seziertisch landen" - mit krassen Worten beschreibt die Wiener Gerichtsmedizinerin Andrea Berzlanovich ihr Anliegen, für das sie sich seit über 20 Jahren engagiert. In den vergangenen Jahren habe sich in Österreich eine dichte Infrastruktur zur Unterstützung und Beratung von Opfern häuslicher Gewalt, der Großteil davon Frauen, etabliert - nicht zuletzt auf Grundlage einer gut durchdachten Gesetzgebung.

Die Prävention und medizinische Erstversorgung der Betroffenen sei aber nach wie vor problematisch und unzureichend: "Mindestens jede fünfte Frau in Österreich erlebt in ihrer Partnerbeziehung körperliche und/oder sexuelle Gewalt. Die zugefügten Gewalttaten können vielfältige Verletzungen und Erkrankungen verursachen - Ärzte, Ärztinnen und Pflegepersonal in Ambulanzen und Praxen haben deshalb eine Schlüsselstellung bei der Identifikation häuslicher Gewalt", betont Berzlanovich. "Deren Beobachtungen und Erkenntnisse sind oft ausschlaggebend für die Aufklärung von und damit Verhinderung weiterer Gewalttaten."

Voraussetzung dafür, Verletzungen als Folge von Gewalt beweisen zu können, seien neben dem sensiblen Gespräch mit dem Gewaltopfer sowie der sorgfältigen körperlichen Untersuchung die Foto- und schriftliche Dokumentation und, besonders dringlich, die Sicherung möglicher biologischer Spuren an Körper und Kleidung der Betroffenen.

Aber auch das Hinterfragen der angegebenen Gründe für die Verletzungen spiele eine wichtige Rolle bei der Erstversorgung: "Sätze wie 'Ich bin die Treppe hinuntergefallen' sind ein hörbares Signal - es ist unerlässlich, dass das medizinische Fachpersonal erkennt und überprüft, ob die Art der Verletzung mit der Schilderung des Unfallhergangs übereinstimmen kann." Das einfühlsame ärztliche Gespräch und ein schonender Umgang seien wichtig, damit das Opfer Vertrauen fasst und sich öffnet - aber nicht überall selbstverständlich: "Sätze wie 'Erzähln'S keine Märchen' bekommen Betroffene nach wie vor von Ärzten zu hören."

Nicht sichtbare Spuren

Um Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal in der Unfallmedizin für sogenannte "red flags" - auf den ersten Blick oft nicht sichtbare Spuren von Gewalttaten - zu sensibilisieren, gibt Andrea Berzlanovich ihr gerichtsmedizinisches Wissen in Schulungen weiter: "'Bagatellverletzungen' wie Kratzer an Mund und Nase, weil die Atemöffnungen zugehalten wurden, oder Griffspuren und Hämatome, die auf eine Abwehr hindeuten können, dürfen nicht übersehen werden - gerade bei häuslicher Gewalt sind sie oft entscheidendes Beweismittel, zum Beispiel dafür, dass die Frau zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurde."

Ebenso könnten auch chronische Beschwerden, die keine offensichtliche physische Ursache haben oder verschiedene Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien Indiz für erlittene Gewalt sein.

Während PolizistInnen den adäquaten Umgang mit Gewaltopfern während der Ausbildung verpflichtend lernen, ist das in der heimischen Grundausbildung von MedizinerInnen noch kein Thema. Derzeit hänge es von den diensthabenden ÄrztInnen ab, wie gut das Opfer in der Ambulanz versorgt wird. "Und nicht alle Kolleginnen und Kollegen sind gleich problembewusst, geschult und engagiert", sagt Berzlanovich.

Um in der Ärzteschaft und bei den Pflegekräften das Bewusstsein dafür zu stärken und die Basis für eine einheitliche Dokumentation und Spurensicherung zu schaffen, wurde im März 2010 ein österreichweiter Leitfaden* für Krankenhaus und medizinische Praxis erarbeitet, an dem Andrea Berzlanovich maßgeblich mitwirkte: "Das Nachschlagewerk bietet unter anderem Hilfestellung und Checklisten für die notwendige Dokumentation aller am Körper der Betroffenen erkennbaren Verletzungen. Für die exakte Spurensicherung hat das Wiener Department für Gerichtsmedizin ein entsprechendes Set zusammengestellt."

Keine Unterstützung "von oben"

Mit dem Spurensicherungsset werde in der Praxis häufig gearbeitet, der Leitfaden hingegen sei in der Ärzteschaft noch zu wenig bekannt oder werde nicht angenommen: "Es wurden unmittelbar nach Veröffentlichung 8.500 Exemplare an Krankenhäuser und Praxen verschickt, aber die Krankenhaus-Träger und die Kollegen und Kolleginnen selbst müssen dafür sorgen, dass damit gearbeitet wird", sagt Berzlanovich.

Auch die vom Verein für Autonome Österreichische Frauenhäuser und von ihr initiierte, interdisziplinäre Ring-Vorlesung "Eine von fünf" sowie die Wanderausstellung "Hinter der Fassade", die das Tabuthema häusliche Gewalt veranschaulichen und damit einen Beitrag zur Prävention leisten, seien "von oben" nicht unterstützt worden: "Bislang hat sich keine einzige Institution aus dem Gesundheitsbereich bereit erklärt, neben halbherzigen Lippenbekenntnissen einen konkreten Finanzbetrag für die Kosten dieser Aktionen zu leisten.

Das lässt entweder auf Gleichgültigkeit oder auf Berührungsängste gegenüber der Problematik 'Häusliche Gewalt' schließen. Ganz zu schweigen davon, dass es in der österreichischen Medizin- und Gesundheitsforschung fast keine wissenschaftlichen Studien dazu gibt."

Manche Ärzte und Ärztinnen seien auch überfordert bis schlichtweg ignorant, wenn es um das Thema geht: "Oft werden Frauen nach der Untersuchung und medizinischen Versorgung einfach wieder heim- oder weggeschickt", kritisiert die Gerichtsmedizinerin. Lediglich fünf Prozent der gewaltbetroffenen Frauen wurden über Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte in Frauenhäuser vermittelt.**

"Info-Folder von Beratungsstellen wie der Frauenhelpline oder der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie zielgerichtet den gewaltbetroffenen Patientinnen zu übergeben, ist das Mindeste, das überfordert die Ärzteschaft nicht." Ärzte und Ärztinnen, die häusliche Gewalt negieren, indem sie behaupten, das sei bei ihnen kein Thema oder sich weigern, Info-Folder aufzulegen und entsprechende Plakate aufzuhängen, hätten möglicherweise Angst, dass ihre Praxis dadurch in Verruf gerät und sie PatientInnen verlieren: "Sie verlieren aber auch eine Patientin, wenn die Frau umgebracht wird", kommentiert Berzlanovich den "unsensiblen Umgang" mit dem Thema. "Häusliche Gewalt wird noch immer viel zu häufig als Privatsache betrachtet - dass dem nicht so ist, da bleibe ich dran, das aufzumischen." (Isabella Lechner, dieStandard.at, 21.11.2010)